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Jazzmesse. Fortsetzungsroman (7)

Frühmesse (7)

Der neue und alte Bundeskanzler stand ganz schön unter Druck, als es um die Bildung des neuen Kabinetts ging. Der Koalitionspartner stellte doch glatt die Bedingung, Franz Josef Strauß auf jeden Fall von einer Regierungsbeteiligung auszuschließen. Dass die kleine Partei so viele Stimmen erhalten hatte, verdankte sie vor allem ihrem Parteivorsitzenden, den angeblich vor allem Frauen gewählt hatten, weil er so gut aussah. Dem ehemaligen Major hatte der Führer im Krieg das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes verliehen. Das allerdings hatte er nicht wegen seines guten Aussehens bekommen.



Dass der Vorsitzende der CSU von der Regierung ausgeschlossen werden sollte, regte die Partei maßlos auf. Man wusste schließlich, dass man das satte Ergebnis bei der Bundestagswahl dem rabulistischen Metzgerssohn an der Spitze der Partei zu verdanken hatte. Dagegen rieten Altbundeskanzler Adenauer und der CSU-Vorsitzende Strauß aus Bayern dem Zigarre lutschenden Kanzler, er möge doch sowohl auf den FDP-Vorsitzenden als auch auf einen CDU-Außenminister Schröder verzichten. Und obendrein versuchte sich ein vertrottelter Bundespräsident mit seinem ständigen Gequatsche von einer großen Koalition Gehör zu verschaffen.

Dem Kanzler blies daher bei den Koalitionsverhandlungen vor allem aus der eigenen Partei ein rauer Wind ins Gesicht. Er konnte trotz des guten Wahlergebnisses nicht ohne die FDP regieren und gab deswegen dem Druck nach. Strauß war in Schach gehalten und in die zweite Reihe zurückgedrängt. Nur der greise Altbundeskanzler, Chef der CDU, und sein Favorit Barzel waren mit diesem Zugeständnis Erhards an den Koalitionspartner nicht einverstanden. Aber der einstige unumschränkte Herrscher, der, je älter er wurde, immer mehr das Aussehen eines Primaten annahm, konnte sich gegen den Dicken, der seit Jahren mit ihm rivalisierte, nicht mehr durchsetzen.

In der Steinpfalz, im südöstlichen Grenzgebiet der Republik zur Tschechei, verzieh man dem sabbernden Kanzler diese Kumpanei mit der ungeliebten kleinen, aber mächtigen FDP nicht. In Eslarn saßen die Kleinbauern, Sägewerksbesitzer, Kolonialwarenhändler und Handwerker beim Frühschoppen am Sonntag im Gasthaus Zum Schwarzen Bären und diskutierten sich die Köpfe heiß, wie sich der CSU-Vorsitzende wohl an der Bonner Koalition rächen werde. Man war sich einig darüber, dass ganz Eslarn mit seinen 1543 Einwohnern beim Angriff auf die Republik wie ein Mann hinter ihrem Landesvorsitzenden Strauß stehen würde.

Als Richard Schnabel, ein gebürtiger Eslarner, am Montag davon in der Pause erzählte, wussten die meisten seiner Schulkameraden nicht so recht, was er damit eigentlich sagen wollte. Sogar Kaktus musste lachen und vermutete, dass in Eslarn offensichtlich ein kontagiöser kollektiver Wahnsinn ausgebrochen sei.

Nur Hubert Fürst erregte die Nachricht so sehr, dass er sogar den Gong überhörte, der das Ende der Pause anzeigte, und immer noch wild gestikulierend weiterredete, als alle bis auf Johnny Pächer bereits wieder im Klassenzimmer auf ihren Plätzen saßen. Hubert wollte auf jeden Fall ein Zeichen setzen und mit dem nächstmöglichen Zug nach Eslarn fahren, um sich einerseits ein genaues Bild vor Ort zu machen und andererseits den Staatsrevolutionären in Eslarn seine Solidarität zu erweisen.

Richard Schnabel war einer der Schulpendler, die täglich mit dem Zug eine dreiviertel Stunde zur Oberrealschule anreisen mussten. Bertram hatte zu den Grenzlern, wie man sie in der Schule nannte, wenig Kontakt. Die schulischen Leistungen der meisten Pendler waren relativ gut, weil sie ausreichend Zeit hatten, während der Zugfahrt die Schularbeiten zu erledigen, sich gegenseitig abzufragen und sich auf den Unterricht vorzubereiten. Es gab allerdings auch eine Clique, welche die Zugfahrt ausschließlich zum Kartenspiel nutzte und die deswegen in der Klasse Kartler genannt wurden.

Zu den Kartlern gehörte auch Johannes Pächer, in der Schule nur als Johnny bekannt, ein gut aussehender Wiederholer, der - wie es aufgrund seiner schulischen Leistungen aussah - mit 18 Jahren über die Mittlere Reife wohl nicht hinauskommen würde.

Bertram hatte zu Johnny einen sehr guten Draht, weil Johnny alles kritiklos gut fand, was Bertram sagte oder tat. Johnny war so etwas wie Bertrams Sprachrohr. Wenn Bertram zum Beispiel jemand einen neuen Spitznamen verpasste, dann ließ er ihn oft von Johnny verbreiten, um von vornherein einem Konflikt mit dem Betroffenen aus dem Weg zu gehen. Und Johnny freute sich darüber, dass er vor den Klassenkameraden vermeintliche Schlagfertigkeit und Intelligenz demonstrieren konnte.

Johnny kam aus Eisendorf, einer kleinen Gemeinde in der Nachbarschaft von Eslarn. Seine Eltern besaßen umfangreiche Waldgebiete, die sie bewirtschafteten und die Johnny als Einzelkind einmal erben sollte. Seinen Eltern war die Schule ohnedies nicht ganz geheuer, hielt sie Johnny doch von der notwendigen Arbeit im elterlichen Betrieb ab. Johnny war übrigens der einzige in der Klasse, der ein eigenes Auto besaß, und zwar einen Fiat Cinquecento, mit dem er von Zeit zu Zeit in die Schule kam. Er fuhr allerdings lieber mit dem Zug zur Schule, da er dann seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Schafkopf, nachgehen konnte.

Bertram konnte Richard Schnabel nicht um alles in der Welt ausstehen. Er nannte ihn verächtlich den Schleimer, worüber sich Richard maßlos ärgerte. Zu allem Übel saß Richard auch noch unmittelbar vor Bertram in der Bankreihe. Manchmal, wenn die Klasse still an einem Text oder einer Matheaufgabe arbeitete, schlug ihm Bertram in einem vom Lehrer unbeobachteten Moment völlig unmotiviert mit der flachen Hand auf den Rücken. Wenn der Schleimer sich dann umdrehte, um zurückzuschlagen, war Bertram wie der Igel vor dem Hasen schon darauf vorbereitet und rief halblaut: „Jetzt gib doch endlich Ruhe!“, sodass der Schleimer vom Lehrer ermahnt wurde, er möge sich gefälligst nach vorn drehen und die Mitschüler in Ruhe arbeiten lassen. Wenn Richard sich beschwerte und einwandte, Bertram habe angefangen, schüttelte dieser nur den Kopf und tat, als wüsste er nicht, wovon Richard spricht, als habe man es mit einem Verrückten zu tun, dem offensichtlich der lange Aufenthalt in einem Ort wie Eslarn psychisch irreparable Schäden zugefügt habe.

In solchen Situationen war sich Bertram Johnnys Unterstützung sicher, der neben ihm in der Bank saß. Johnny konnte den Schleimer auch nicht leiden, der ihn oft arrogant und wie einen Deppen behandelte, was Johnny ungemein wurmte. Manchmal stachelte Johnny Bertram sogar an, dem Schleimer eins auf den Rücken zu geben. Dann rief er laut in die Klasse: „He, du Schleimer, schau nach vorn und lass uns in Ruhe.“ Richard revanchierte sich dann bei nächster Gelegenheit mit abfälligen Bemerkungen über die Kartler, woraufhin Johnny wieder nach Gelegenheiten suchte, dem Schleimer eins zu verpassen, und das, obwohl beide sogar weitschichtig verwandt waren. Auf diese Weise entstand eine Spirale an Beleidigungen, Grobheiten und lauten Beschimpfungen, die nicht selten in handfesten Rangeleien endeten.

Josch 30.03.2017, 17.20

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