Ausgewählter Beitrag
Frühmesse (12)
Um Hubert herum tobte der Schafkopfkrieg, von dem er jedoch nichts mehr mitbekam. An nahezu allen Tischen wurde jetzt gespielt. Es gab sogar Schafkopfer, die mit wenig Unterbrechung von Freitagnachmittag bis Sonntagabend spielten.
Am Samstagabend und Sonntagmittag bekamen die Spieler dann Besuch von ihren Ehefrauen, die sich still neben ihre Männer setzten, süßen Weißwein tranken, gelangweilt Zeitschriften durchblätterten und von Zeit zu Zeit den Arm auf die Schulter ihres Erwählten legten, um ihm besser in die Karten sehen zu können.
Das war ihre Freizeit, ihr Lebensinhalt, ihr Urlaub. Sie waren stolz auf ihren Heimatort, auf die Steinpfalz, auf den Wald, in den sie nie kamen, auf das Bier, die Knödel und den Schweinsbraten, den CSU-Bürgermeister, den Pfarrer, auch wenn ihn manche nur an Ostern und Weihnachten sahen. Sie waren stolz, hier geboren zu sein, und sie schienen nur für das eine Ziel zu leben, nämlich hier auch einmal sterben und begraben zu werden. Andere Ziele hatten sie nicht, und sie dachten auch nicht viel darüber nach. Das war ihr Leben.
Als Hubert gerade eingeschlafen war, wurde er jäh hochgerissen und ins Freie gezerrt, wo ein schwarzer Mercedes mit laufendem Motor wartete. Die beiden Männer, die Bertram untergehakt hatten, öffneten den Wagenschlag, setzten ihn ins Auto und sagten dem Fahrer, er möge ihn nach Hause bringen.
„Das kostet aber mindestens fünfundzwanzig Mark.“
„Das Geld kannst du dir ja von seinen Leuten geben lassen.“
„Wenn er überhaupt Angehörige hat, der besoffene Lackel.“
„Der hat schon welche. Er geht ja noch in die Schule.“
„In die Schule geht der noch?“, fragte der Fahrer ungläubig.
„Wird dort auch so gesoffen? Nur noch Besoffene gibt es zu transportieren. Da braucht man schon Nerven. Hoffentlich kotzt er mir nicht den Wagen voll. Sonst muss er die Reinigung auch noch zahlen. Ich hasse nichts mehr wie diese Besoffenen, die kotzen und in die Hose scheißen. Und mit solchen Viechern muss man dann im Auto sitzen und sie auch noch herumkutschieren. Die sind es doch gar nicht wert. Früher hätte man mit einem solchen Pack ganz etwas anderes gemacht.“
„Jetzt beruhig dich wieder, Steiner, und bring ihn heim. Du wirst ja schließlich dafür bezahlt.“
„Wenn ich nur das Geld schon hätte! So sicher bin ich mir da nicht, dass seine Leute die Fahrt zahlen. So schaut es nämlich meistens aus mit den besoffenen Schweinen. Da fährt man sie in der Weltgeschichte herum, und dann kann man schauen, wie man zu seinem Geld kommt. Nur Ärger und Verdruss hat man mit solchen Tagedieben und Gammlern.“
Nach langem Hin und Her, bei dem man sich darauf geeinigt hatte, dass man sich im Zweifelsfall halt die Kosten teilen würde, fuhr der Mietautobesitzer endlich los, um Hubert in die gut 30 km entfernte kreisfreie Stadt zu bringen, wo dieser bei seinen Eltern wohnte.
Die Wirtin hatte kurzerhand Hubert die Geldbörse aus der Hosentasche gezogen und sich das Geld herausgenommen, das Hubert ihr für die Zeche schuldete. Dabei fand sie auch die Adresse, die Hubert für den Fall, dass er sein Portemonnaie verlöre, für den ehrlichen Finder in eines der Fächer gesteckt hatte. Dann hatte sie den Mietautobesitzer des Ortes angerufen, der um diese Zeit meistens schon im Bett lag, und ihn gebeten zu kommen. Es hatte sie einiges an Überredungskunst gekostet, ihn dazu zu bewegen. Schließlich hatte er sich doch breitschlagen lassen und war aufgestanden.
In Eslarn lag um diese Jahreszeit schon der erste Schnee. Streckenweise waren die Straßen spiegelglatt und nicht geräumt. Nur wenige Autos waren um diese Zeit auf der Straße. Die Fahrt dauerte fast eine Stunde. Unterwegs musste der Fahrer zweimal anhalten, weil Hubert das dringende Bedürfnis hatte, sich zu übergeben. Während Hubert am Straßenrand im Schnee kniete, sich erbrach oder seine Notdurft verrichtete, saß der Fahrer im warmen Auto, rauchte eine Zigarette und hörte gerade Fredy Quinns neuen Hit:
Junge, komm bald wieder, bald wieder nach Haus. Junge, fahr nie wieder, nie wieder hinaus. Ich mach mir Sorgen, Sorgen um dich, denk auch an morgen, denk auch an mich.
Steiner summte leise mit. Dann wurde die Wagentür umständlich geöffnet, und Hubert, der sich von oben bis unten besudelt hatte, kroch, übel stinkend, ins Auto.
„Ich muss sterben“, flüsterte er, legte sich quer auf den Rücksitz und fing sogleich an zu schnarchen.
In der kreisfreien Stadt angekommen, musste der Fahrer ziemlich lang suchen, bis er das Haus am Fichtenbühl fand, in dem Hubert wohnte. Mühsam durchwühlte er die Taschen Huberts, um nach dem Haustürschlüssel zu suchen. Dann schloss er die Eingangstür des Mietshauses auf, schleppte den Betrunkenen in den zweiten Stock und klingelte sturm. Es dauerte einige Minuten, bis eine Frauenstimme von innen fragte, wer denn an der Tür sei. Als Hubert die Stimme seiner Mutter hörte, war er mit einem Schlag ziemlich klar im Kopf. Er versuchte vergeblich, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Da wurde auch schon die Tür von innen aufgerissen, und sein Vater stand im Schlafanzug vor ihm und dem Mietautofahrer. Noch bevor Hubert irgendetwas sagen konnte, schlug ihm der Vater mit voller Wucht die Faust ins Gesicht. Hubert taumelte nach hinten und fiel dem Mietwagenfahrer in die Arme.
„Siebenundzwanzigmarkfünfzig, macht das“, sagte der Taxifahrer und streckte dem Vater seines Fahrgasts die Quittung entgegen.
„Wer sind denn Sie überhaupt?“, wollte Huberts Vater unwirsch wissen.
„Ich bin der Steiner Albert, das Taxi von Eslarn. Ich habe ihren Buben hergefahren. Aber er hat kein Geld mehr.“
Huberts Vater drehte sich wortlos um und verschwand in einem Zimmer. Als er wieder auftauchte, hatte er das Geld passend abgezählt, gab es dem Steiner, der es kurz nachzählte und es geschickt in seiner großen Geldkatze verschwinden ließ. Dann bedankte er sich kurz, brummte einen unverständlichen Gruß und wackelte die Treppe hinunter.
Konrad Fürst jedoch bückte sich nach seinem Sohn und schlug ihm erneut ins Gesicht. Hubert rappelte sich stumm auf, wankte in sein Zimmer und warf sich, ohne sich auszuziehen, auf sein Bett. Der Schädel brummte ihm gotterbärmlich, und er musste sich schon wieder übergeben ...
Abbildung: © Fotolia, Kichigin19
Josch 08.06.2017, 12.50
Kein Kommentar zu diesem Beitrag vorhanden