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Jazzmesse. Fortsetzungsroman (15)

Jazzmesse erzählt von Bertram, Gabi und Hubert, Jugendlichen in der bayerischen Provinz in den 1960er-Jahren. Etwaige Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig. Frühmesse ist das erste von insgesamt zwölf Kapiteln. 

Frühmesse (15)

Bertram träumte vor sich hin, während die drei Geistlichen vorn am Altar mittlerweile bei der Wandlung waren: „Nehmet und esset alle davon, das ist mein Leib“, näselten die drei Geistlichen. Pfarrer Bauer hatte sich ganz nah über die große Oblate gebeugt, die er mit beiden Händen festhielt, als fürchte er, sie könnte sich aus dem Staub machen, während seine beiden Konzelebranten mit nach oben geöffneten, leeren Händen auf die Oblate wiesen.

Um wessen Leib handelt es sich denn nun eigentlich: um den der drei Konzelebranten oder um den des Herrn Jesus. Sollte es sich wirklich um die Leiber der Priester handeln? Sind Christen eigentlich Menschenfresser?



Wenn aber alle drei Leiber gemeint sind, dann stimmt der Satz so ja nicht, denn dann hätten die Geistlichen singen müssen: „Nehmet und esset alle davon, das sind unsere Leiber.“

Wenn es sich aber nur um einen Leib eines der drei Geistlichen handeln sollte, dann hätten zumindest die zwei anderen Priester auf den dritten deuten und sagen müssen: „Das ist sein Leib.“

War aber der Leib des Herrn Jesus gemeint, dann hätte es heißen müssen: „Das ist der Leib des Herrn Jesus.“ Bertram kam mit seinen unorthodoxen Überlegungen nicht weiter.

Der Ruhestandspfarrer, Geistlicher Rat Heinrich Maria Zöpfel, ehemals Präfekt im Knabenseminar Traunstein, litt an der Parkinsonschen Krankheit, der sogenannten Schüttellähmung. Gerade war er im Begriff, den Kelch zu heben, da fing er derartig zu zittern an, dass er das Blut des Herrn Jesus verschüttete, sodass der ganze Altar vom verwandelten Wein troff. Er stellte den Kelch ab, leckte an seinen Fingern herum und purifizierte zusammen mit den beiden Konzelebranten den Altar mit dem Velum, einem weißen Tuch, das die Geistlichen vor der Messe über den Kelch gehängt hatten, in den sie den Wein gegossen hatten.

Karl Wimmers älterer Bruder Erich, der in Regensburg im Priesterseminar Theologie studierte, hatte den Geistlichen Rat Zöpfel noch in der Schule in Traunstein als Religionslehrer erlebt.

Einmal, so hatte Erich erzählt, fragte der Geistliche Rat im Religionsunterricht in der ersten Klasse Gymnasium den Katechismus ab, und zwar ging es um das Thema Offenbarung. Heinrich Zöpfel wollte von einem elfjährigen Schüler wissen, wodurch sich Gottes Liebe den Menschen offenbare. Der Schüler war sehr aufgeregt und hatte den als verbindlich zu glaubenden Antwortsatz vergessen. Da drosch der Präfekt, während er die Antwort buchstabierte, im Silbenrhythmus auf den Schüler ein und gab so ein Beispiel für die liebende Offenbarung des Herrn:

„Gott of-fen-bart sich uns Men-schen durch sei-ne Lie-be.“

Jeder Schlag des Geistlichen rechts und links und hinten und vorn in das Gesicht und auf den Kopf des Knaben unterstützte die Worte des Schlägers auf eindrucksvolle Weise. Dadurch dürfte der Schüler sein Leben lang wohl nicht mehr vergessen haben, was Gottes Liebe ist und wie sich diese Liebe bei, oder sollte man besser sagen: auf Menschen auswirkt. Der Schüler hatte den Satz angeblich bereits bei der nächsten Extemporale ohne Fehler beantworten können. Jedenfalls behauptete dies Karls Bruder Erich.

In diesem Augenblick sagte der Hauptzelebrant Bauer bedeutungsschwer, während er sich theatralisch nach allen Seiten umdrehte: „Tut dies zu meinem Gedächtnis.“

 

Wie kann man etwas zu eines anderen Gedächtnis tun? Wenn er sich etwas merken will, der Oberpfarrer, der schlaue, dann hilft ihm nur eins: er muss sein Gedächtnis trainieren, er muss Verse lernen und sie wiederholen. Wahrscheinlich muss man etwas 17-mal wiederholen, bis man es sich für immer eingeprägt hat, das hat vor einiger Zeit einmal Studienrat Dr. Kutzer im Mathematikunterricht behauptet. Aber es könnte gut sein, dass es sich dabei wieder einmal um einen typischen Kutzerwitz handelte. Wenn Bertram an Kutzer dachte, musste er immer lächeln. Kutzer war ein feiner Typ, jedenfalls empfand es Bertram so.

Aber vielleicht meint der Pfarrer ja etwas ganz anderes? Dennoch: Hätte er nicht sagen müssen: Tut dies für mein Gedächtnis? Die Gemeinde wird ihm mit Sicherheit nicht helfen können bei der Besserung seines schlechten Gedächtnisses, denn die meisten, die zu dieser Pfarrgemeinde gehören, haben selbst ein äußerst schlechtes Gedächtnis, sonst hätten sie keine solch abscheulichen Leserbriefe an das Steinpfälzer Tagblatt schreiben können, wie es im März dieses Jahres geschah. Da waren nämlich vierzehn ehemalige Pflegerinnen der Heil- und Pflegeanstalt Obrawalde beim sogenannten Euthanasie-Prozess der Beihilfe zum Mord an 8.000 Geisteskranken angeklagt und dann aber freigesprochen worden. Sie hatten die Opfer vorgeführt und festgehalten, während die Ärzte den Kranken tödliche Spritzen verabreichten. Kirchenrat Brummer forderte zum Beispiel in seinem Leserbrief, dass man endlich die Verfolgung ehemaliger NSDAP-Mitglieder einstellen möge. Es müsse doch auch einmal ein Schlussstrich gezogen werden. „Wann dürfen wir Deutsche denn endlich so leben wie alle anderen Völker auch?“ Und warum spreche niemand von den Verbrechen der Russen im Zweiten Weltkrieg? Nur immer die Deutschen seien die Übeltäter. Zwanzig Jahre Sühne seien genug, schrieb der Kirchenrat. Letztes Jahr hatte er schon einmal seine Stimme erhoben, als dem Dr. Fritz Sawade der Prozess gemacht werden sollte. Fritz Sawade hieß im Krieg Werner Heyde und war ehemals Chef der sogenannten Organisation T 4. Heyde stand im Krieg einem mobilen Kommando von Psychiatern vor, das Pflegeanstalten und Konzentrationslager bereiste, um dort die Insassen für die Tötung auszusondern. Nach dem Krieg tauchte Heyde unter und in Schleswig-Holstein als Sawade wieder auf. Bis 1964 arbeitete Heyde als Nervenarzt Dr. Sawade, hielt Vorträge und war hoch geschätzter medizinischer Obergutachter beim Landessozialgericht Schleswig sowie Vertragsarzt der Landesversicherungsanstalt. Er konnte nur deswegen so lang unerkannt unter falschem Namen arbeiten, weil ihn höchste Regierungsbeamte gedeckt und einfach vergessen hatten, was in der unseligen Zeit zwischen 1933 und 1945 in deutschen Krankenhäusern und Lagern geschah.

Josch 20.07.2017, 15.26

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