Ausgewählter Beitrag
Jazzmesse erzählt von Bertram, Gabi und Hubert, Jugendlichen in der bayerischen Provinz in den 1960er-Jahren. Etwaige Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig. Abendgottesdienst ist das dritte von insgesamt zwölf Kapiteln. Mit folgendem Abschnitt endet die Fortsetzung auf dem Blog. Den Roman wird es in einigen Monaten als Buch geben.
Abendgottesdienst (2)
Die Buchhandlung war eher ein Schreibwarengeschäft, und die einzige Literatur, die es dort gab, waren Wildwest- und Liebesromane, die neben der Eingangstüre in einen riesigen Drehständer geschlichtet waren. Und hinter der Ladentheke fanden sich allenfalls Schul- und Wörterbücher neben Schreibblöcken und Lottoscheinen, jedenfalls nichts, was nur halbwegs die Bezeichnung Literatur verdient hätte.
Bertram fragte die Buchhändlerin, ob sie Die Plebejer proben den Aufstand vorrätig habe, worauf diese den Kopf schüttelte und ihn ansah, als habe sie es mit einem Irren zu tun. Dann schwebte sie in eine Nische des Ladens, holte ein überdimensionales Lexikon hervor, um sich wichtigtuerisch darin zu versenken. Nach einiger Zeit hob sie den Kopf, drehte den Oberkörper wie die Gretl im Kasperltheater neben dem Vorhang leicht zur Seite, klappte das Verzeichnis lieferbarer Bücher sachte zu und stellte mit einer Stimme, als habe sie soeben einen Sexualtäter bei der Gegenüberstellung wiedererkannt, fest, dass das Stück noch nicht erschienen sei.
Bertram wunderte sich über das Wort „erschienen“, das ihm bisher nur im Zusammenhang mit Jesu Auferstehung und dem Wallfahrtsort Lourdes in Frankreich geläufig war. Da ihm die vorwurfsvolle Färbung in der Stimme der Papierverkäuferin nicht verborgen geblieben war, musste er sich sehr zusammennehmen, um gegenüber der verblichenen Schönheit mit ihrer dunklen Hornbrille nicht ausfällig zu werden. Ihn machte diese Noblesse rasend. Aber war er nicht selbst auch oft überzogen, ja arrogant?
Enttäuscht, weil er das Buch nicht sofort haben konnte, verließ er den Laden und ging in die Gemeindebibliothek, um sich anderen Lesestoff zu besorgen. Da entdeckte er ganz zufällig Die Blechtrommel. Das Buch war offensichtlich noch nie ausgeliehen worden, da in der Laufkarte kein einziges Datum eingetragen war und sich auch sonst keine Fett- oder Marmeladeflecken im Buchinneren fanden. Bertram rannte mit dem Buch unter dem Arm nach Hause, zog sich auf sein Zimmer zurück und begann aufgeregt und voller Erwartung zu lesen. Er konnte den Roman bereits nach kurzer Zeit nicht mehr aus der Hand legen, nahm ihn mit zum Essen, auf die Toilette, ins Bad und in die Schule. Im Chemieunterricht versteckte er das Buch unter der Bank und versenkte sich, von Oberstudienrat Adolf Eisenhut scheinbar unbemerkt, statt in Halbwertzeiten in das Buch von Günter Grass. In Chemie konnte man seine Hausaufgaben machen, konnte sich Tagträumen hingeben und musste sich nicht ständig rechtfertigen, warum man nicht aufgepasst hatte. Der Oberstudienrat duldete allerdings keine Unterhaltung während des Unterrichts. Da wurde er fuchsteufelswild, aber sonst war es ihm egal, was die Schüler während seines Unterrichts trieben, Hauptsache, es war ruhig.
Die Lektüre drohte Bertrams gesamtes Denken zu vernebeln. Der Roman brachte seine bisherige Erfahrung durcheinander, zerstörte sein junges, aufkeimendes Weltbild von Grund auf. Am schlimmsten empfand er den Umstand, dass er mit niemandem darüber sprechen konnte, weil er fürchtete, er könnte sich dabei bloßstellen. Er war voll innerer Unruhe und Angst. Wem sollte er trauen: seiner bisherigen Erfahrung oder dem Buch? Es ärgerte ihn ungemein, dass der Text derartig von seinem Denken Besitz ergriff, ihn fesselte, knebelte, ihn über Tage hinweg nicht mehr losließ. Er überlegte, grübelte, träumte, las diese und jene Stelle ein zweites, ein drittes Mal und stellte beunruhigt fest, dass das Buch, je länger er sich damit beschäftigte, mehr Fragen offenließ als es beantwortete. Und immer wieder überlegte er, was die Geschichte mit ihm oder mit seiner Familie zu tun haben könnte. Warum nur berührte ihn das Buch so sehr? Das nagte an ihm und weckte seinen Ehrgeiz. Es war wie ein Kampf zwischen ihm und dem Buch. Er identifizierte sich mit Oskar und sah eine ganze Reihe Parallelen mit dieser Romanfigur und sich selbst. Oskar lebte, das wusste Bertram. Und irgendwie ahnte er auch, dass solche Figuren wie Oskar wichtig waren, damit die Menschen nicht verzweifelten. Für ihn war dies alles nur sehr schwer zu verstehen und einzuordnen. Und bei allem Chaos, das er nach außen hin oft verbreitete, war er innerlich geradezu zwanghaft darauf bedacht, alles, was auf ihn einströmte, wie in Schubläden und Kästen fein säuberlich zu ordnen und aufzureihen.
Er saß in seinem Sessel und grübelte. Je länger er nachdachte, desto trauriger wurde er. Die Wirklichkeit, die ihn umgab, waren seine Mutter, sein Bruder, sein Vater, sein Großvater, Hans Rummel, Kaktus, Richard Schnabel, Biafra, die Schulkameraden eben. Es waren Pfarrer Julius Bauer, Kaplan Joseph Meyer, Geistlicher Rat Heiner Maria Zöpfel, Kirchenrat Otto Brummer, es waren die Schule, Gabi, Vroni, Lisa, Margit und Agnes, und es war eben nicht Danzig oder das Fischereiwesen an der Ostsee.
Er gab sich einen Ruck und stand auf, um nach dem Rollenheft zu suchen. Er wollte endlich dieser geistigen Knebelung entgehen, in die das Buch ihn zwang, und sich wieder auf das Theaterspielen konzentrieren, das er in den letzten Tagen vernachlässigt hatte.
Er fand das Textheft unter den Schulsachen und seinem Tagebuch auf dem kleinen Tischchen neben seinem Bett und versuchte sich in die Rolle der Klothilde hineinzuversetzen. Die Dialoge gefielen ihm. Doch während er das Stück las, kam er immer wieder ins Träumen. Er überlegte und überlegte, ging unruhig im Zimmer auf und ab, nahm erneut die Blechtrommel in die Hand, schlug den Roman an einer beliebigen Stelle auf, begann zu lesen, klappte das Buch wieder zu, warf es ärgerlich aufs Bett und versuchte sich erneut in seine Theaterrolle zu vertiefen.
Er rief sich verschiedene Verhaltensweisen seiner Mutter ins Gedächtnis, zum Beispiel, wie sie mit dem Vater sprach, wenn sie ihm Vorwürfe wegen seiner ironischen Bemerkungen machte, wie sie sich bewegte, wenn sie sich ärgerte, oder wie sie die Schürze immer glatt strich und sich in den Spiegel sah, bevor sie mit dem Kochen begann. Genauso wollte er seine Rolle anlegen. Sie sollte mütterlich, distanziert, naiv, ohne zärtliche Geste für den Ehemann und Vater ihrer Tochter, bigott und unterwürfig sein, ständig mit der Versorgung der Familie beschäftigt, als gebe es nichts Wichtigeres als kochen oder das Geschirr spülen.
„Man nennt mich allgemein Klothilde, ich bin bekannt ob meiner Milde. Ich suche immer zu vermitteln und das Verhängnis abzuschütteln“, begann er seinen kurzen Monolog. Und dieser erste Einsatz war für ihn ganz entscheidend.
Josch 15.01.2018, 11.19
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