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Influencer oder Inspirator?

Ich bin kein Influencer

Ich bin kein Influencer, wenngleich es schon was hat, jemanden zu beeinflussen. Ich will es zugeben. Beeinflussung ist ein ambivalentes Geschehen. Würden wir uns nicht beeinflussen lassen, lernten wir nichts dazu. Die ersten Influencer sind die Eltern, die Geschwister, dann kommen die Kinder im Kindergarten hinzu, die Kindergärtnerin, die Lehrerinnen und Lehrer, die Mitschüler, die Freunde, die Studienkollegen, die Professoren oder die Arbeitskollegen, der Chef, der Meister, die Medien, die Journalisten und Politiker, die Konsumwelt und nicht zuletzt die Freundin oder der Freund, der Ehepartner, und dann die eigenen Kinder. So schließt sich dann der Kreis. Irgendwie sind wir alle Influencer, die von Influencern umgeben sind. Und dennoch bin ich kein Influencer. Ich habe ja keine Kosmetik anzupreisen, wie zum Beispiel Bibi, keine Kleidung, wie Stefanie Giesinger, kann keine Ernährungs- und Kochtipps geben wie Saliha Özcan, und ich weiß vom Leben zu wenig, um das Interesse der Menschen auf mich zu ziehen.



„Alte sind unsichtbar!“

Ich habe einfach zu wenig anzubieten. Ich kann keine schlauen Ratschläge geben, zum Beispiel, wie man am schnellsten abnimmt oder welche Fitnessübungen man machen muss, um schon nach wenigen Tagen beneidenswert gut und durchtrainiert auszusehen. Das sind Werte, um die es heute geht. Ich bin ja nicht einmal auf Instagram. Wozu auch? Wen sollten denn meine Bilder interessieren? Um Gottes Willen! Bitte nicht! Gott sei Dank verschwinden die Alten immer mehr aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Sie sind bestenfalls interessant, wenn es um Altenpflege oder Rente, wenn es um Demenz oder potenzielle Wähler geht (ich wähle bewusst diesen Zusammenhang). Aber sonst sind die Alten uninteressant. Es ist schon so, wie Susanne Schneider ihren Artikel im SZ-Magazin vom 17. August 2018 überschreibt: „Von der Bildfläche verschwunden.“ In ihrem Protestschreiben schildert sie unter anderem eine ganz typische Situation in einem Lokal: wie der Kellner oder die junge Bedienung einen älteren Menschen einfach übersieht und erst einmal die später ins Lokal gekommenen jungen, attraktiven Menschen bedient. Allerdings werden ältere Männer auch übersehen. Diesbezüglich habe ich andere Erfahrungen gemacht als Susanne Schneider, die behauptet, dass ihr Mann schneller bedient wird als sie. „Uns sieht man nicht mehr. Uns Alte. Wir sind unsichtbar“, heißt es in dem Artikel. Ja, das ist offenbar der Lauf der Welt: Je älter man wird, desto unsichtbarer wird man.


Das dreißigste Jahr

Ich überlege: Wie war das eigentlich, als ich jung war? Habe ich alte Leute wahrgenommen? Doch eher nicht. Warum sollte sich ein junger Mensch mit alten Leuten beschäftigen? Warum sollte er sie wahrnehmen? Sie womöglich interessant finden? Als ich sechzehn war, dachte ich, ich werde nicht älter als 32. Zweiunddreißig, das war für mich aus unerklärlichen Gründen ein Alter jenseits von Gut und Böse. Vielleicht ist dies auch ein Grund, warum ich mich schon seit über 30 Jahren alt fühle. Der dreißigste Geburtstag war auch einer der schlimmsten in meinem Leben: Ich las Ingeborg Bachmanns „Das dreißigste Jahr“ und war überwältigt von dem Text, dem ich aus ganzem Herzen zugestimmt habe, der meine innersten Gedanken und Gefühle damals in einer Klarheit formulierte, wie ich es nie und nimmer gekonnt hätte. Schon der erste Satz dieser Erzählung zog mich in seinen Bann: „Wenn einer in sein dreißigstes Jahr geht, wird man nicht aufhören, ihn jung zu nennen. Er selber aber, obgleich er keine Veränderungen an sich entdecken kann, wird unsicher; ihm ist, als stünde es ihm nicht mehr zu, sich für jung auszugeben.“ Ich muss zugeben, dass es keinen „runden“ Geburtstag mehr in meinem Leben gegeben hat, der für mich so einschneidend war. Vielleicht kommt ja noch einer, wenn eine Sieben oder eine Acht vor der Null steht. Ich weiß es nicht, zumal es in meinem Leben immer weniger Gewissheiten gibt, außer jener, dass das Leben begrenzt ist. Dies wurde mir vor einigen Tagen wieder schmerzhaft bewusst, da eine meiner beiden Schwestern ganz plötzlich und unerwartet verstorben ist. Es sind die irreversiblen Ereignisse, die das Leben bestimmen und ihm Qualität verleihen. So schlimm ein solches Geschehen auch ist.


Möchte ich Influencer sein?

Ich überlege: Wäre ich nicht gern selbst ein Influencer? Vielleicht nicht gerade in Bezug auf den Konsum von Kosmetika, Kleidung oder Essen. Aber vielleicht ein Influencer, der mit seinen bescheidenen Gedanken den Leser zum Nachdenken bringt, der ihn über ein Wort oder einen Satz stolpern lässt? Vielleicht bestätigt es ja seine eigene Erfahrung, oder es löst bei ihm Widerspruch aus. In jedem Fall hätte meine „Einflussnahme“ das erreicht, was mit den Worten intendiert ist: Den Leser zum Nachdenken zu übringen. Sich einen Moment Zeit nehmen und überlegen. Sich inspirieren lassen! Ein meines Erachtens viel schönerer Prozess als to influence somebody. Wenn ich ehrlich bin, habe ich etwas gegen die heute übliche Form der Beeinflussung. Ich möchte lieber Inspirator sein als Influencer. Ich habe was gegen die Flut der Werbung. Und mehr ist dieses ganze Influencing ja nicht. Vielleicht geht es ja dir auch so …

© Abbildung fotolia, AlienCat

Zitat Ingeborg Bachmann: "Das dreißigste Jahr", © dtv-Verlag, München

Josch 19.08.2018, 14.05

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