Ausgewählter Beitrag
Du warst im Urlaub? Wie war's?
Was soll man auf eine solche Frage antworten? Etwa: Es war grauenhaft. All diese fremden Menschen, diese völlig andere Kultur, das Essen, die Sprache, das Land, das Klima, die Hygiene. Einfach alles furchtbar, ekelhaft. Oder soll man sagen: Großartig. Einfach großartig. Super. Und das war's dann. Die Antwort wird wohl davon abhängen, wo man im Urlaub war und ob der Mensch wirklich wissen will, wie es war, oder ob es sich eher um eine amerikanisch hingeworfene Floskel handelt, wie etwa How are you?
Ich war mit zwölf mir bis dahin fremden Menschen in Äthiopien. Es war also eine Gruppenreise. Eine Kulturreise, nicht am Strand oder Pool liegen, sondern straffes Programm mit mehrstündigen Busfahrten und einigen Inlandsflügen. Schlafen in Lodges und Hotels, nie länger als zwei Nächte an einem Ort. Geführt und kompetent geleitet von einem Reiseleiter.
Die Vorbereitung
Noch nie habe ich mich bisher so intensiv auf eine Reise vorbereitet: inhaltlich, medizinisch, organisatorisch … Impfungen, Visum, Pass, tropensichere Kleidung. Mit der Vorbereitung wuchs die Vorfreude auf die Reise und die Nervosität. Wie wird es wohl werden? Und dann war der Tag da. Es ging endlich los …
Stationen
Fahrt mit dem Zug nach Frankfurt. Nachtflug nach Addis Abeba. Ankommen. Aufwendige Passkontrolle. Fahrt ins erste Hotel. Kurz Einchecken und schon zwei Stunden später die erste Besichtigungstour.
Äthiopien hat eine mehrere tausend Jahre alte Kultur. Es ist eines der ärmsten Länder der Welt. Bevölkerungsreichstes Binnenland Afrikas mit sehr hoher Fertilität. Flächenmäßig etwa dreimal so groß wie Deutschland. Circa 110.000.000 Einwohner. Die Hauptstadt Addis Abeba (die Neue Blume) liegt fast 2.400 Meter ü.d. Meeresspiegel und hat knapp 3,4 Millionen Einwohner. Weitere Stationen: Bahir Dar, Tana-See (etwa sechsmal so groß wie der Bodensee), Gondar, Debark, Axum, Lalibela, Awash-Nationalpark, Harar, Dire Dawa …
Höhepunkte
Eigentlich war die Reise ein einziger Höhepunkt. Beeindruckend die Stelen in Axum, die größte über 500 Tonnen schwer, knapp 2.000 Jahre alt. Für die Wissenschaft bis heute ein Rätsel, wie die Stelen an diesen Ort kamen. Oder der Palast von Dungur, der auf das 7. Jahrhundert n. Chr., von Professor Ziegert sogar auf das 10. Jahrhundert vor Chr. datiert wird, was allerdings umstritten ist.
Unübertroffen jedoch die elf in den Fels gehauenen Kirchen in Lalibela, dem Neuen Jerusalem. Es wird vermutet, dass über 40.000 Menschen fast 100 Jahre daran gearbeitet haben. Andere sprechen von nur 23 Jahren. Wer jemals vor diesen Monolithen stand, wird die Bilder nie mehr aus dem Kopf bringen. Eine Wahnsinnstat! Alles in den Felsen schlagen, nichts mauern. Felsenkirchen für die Ewigkeit.
Berührungspunkte
Was mich die gesamte Reise hindurch am tiefsten berührte, das waren die Menschen, zumal die Kinder. Ich habe noch nie so viele Kinder gesehen. Egal, wo unser Bus stehen blieb, ob auf 3.000 Meter Höhe, irgendwo in freier Natur oder in einem Dorf: innerhalb weniger Minuten waren wir von einer Schar Kinder umgeben. In einem Dorf wollen mir alle Kinder die Hand geben. Alles, was sie besitzen, tragen sie am Leib. Kleidung, die nur mit großer Fantasie so bezeichnet werden kann. Sie leben mit ihren Geschwistern – im Durchschnitt fünf – in winzigen Hütten, ohne Fenster, ohne Toilette, ohne Wasser, oft ist nebenan eine winzige Hütte, in der gekocht wird. Die Kinder machen keinen unglücklichen Eindruck. Was ihnen jedoch fehlt, das ist eine Perspektive, eine positive soziale Prognose. Was wird aus ihnen werden? Die neue Regierung unter Ministerpräsident Abiy Ahmed Ali (seit 2018) versucht, aus eigener Kraft den wirtschaftlichen Um- und Aufschwung zu schaffen.
Ich überlege: Was bringt es, wenn ich den Kindern jeweils eine 10-Birr-Note (etwa 0,30 €) in die Hand drücke. Würde es ihre Lage verbessern? Wahrscheinlich nicht. Ich muss mich überwinden und mich an den Rat unseres Reiseleiters halten: Nichts geben. Es ist nicht nur sinnlos, sondern würde die Begegnung aufs Almosenverteilen reduzieren, wie der reiche Onkel aus Amerika, der nach dem Krieg Kindern Schokolade und Kaugummi schickte. Von Herzen kommende Freude und Freundlichkeit, Neugierde, den anderen, fremden Menschen voller Interesse und Respekt begegnen, das ist damit nicht mehr möglich.
Ich überlege weiter: Wie geht es unseren Kindern? Sind sie auch so offen für fremde Menschen? Was brauchen sie, um sich spielerisch entwickeln zu können? Sind sie klüger als diese Kinder, die in völliger Freiheit aufwachsen?
In der Stadt Harar mit etwa 150.000 Einwohnern (genau weiß man das nie), leben orthodoxe Christen, Muslime und Protestanten friedlich zusammen, ohne Anschläge, ohne Mord und Totschlag. Und das seit vielen hundert Jahren.
Was bleibt
Auf einem Markt in der Nähe von Harar, auf dem es sehr eng zugeht, werde ich öfter von Frauen und Männern berührt, als wollten sie kontrollieren, ob ich echt bin. Staunen, Lachen, Freundlichkeit. Ich bringe vieles von dieser Reise nicht mehr aus dem Kopf. Zum Beispiel die Kaffeezeremonien (Äthiopien ist das Ursprungsland des Kaffees. Sein Kaffee gehört zu den besten der Welt).
Am meisten haben mich die Menschen angerührt. Es war keine Erholungsreise. Und doch habe ich das Gefühl, dass ich wesentlich entspannter in den Alltag zurückgekehrt bin als bei allen bisherigen Urlauben in meinem Leben. Denn diese Reise hat mich massiv mit mir selbst konfrontiert und mich zum Nachdenken über mein Leben gebracht. Dieser Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Und zur Ausgangsfrage zurück: Es war ein unvergleichlich schöner Urlaub.
Josch 30.03.2019, 11.41
Danke für diese Eindrücke. Viele davon kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Wir waren Ostern 2018 im Norden von Äthiopien. Die Palmprozessionen, die Karwoche haben wir so anders und doch so eindrücklich erleben können. Neben der Wertschätzung für den Kaffee, war es das zu Fuß-Gehen der Menschen, das uns so nachhaltig beeindruckt hat. Oft kilometerweite Schulwege für die Kinder. Oder ganze Dörfer Alt und Jung unterwegs zu einer Beerdigung.
Ein faszinierendes Land in ganz vielerlei Hinsicht
Wilfred Nann
vom 03.09.2019, 19.36
Vielen Dank für Ihren weiterführenden Kommentar. Das kann ich nur bestätigen. Danke für Ihren Besuch auf meinem Blog.