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„Sprung in der Schüssel“
Eine asiatische Weisheit
Es war einmal eine alte chinesische Frau, die zwei große Schüsseln hatte. Diese hingen an den Enden einer Stange, die sie über ihren Schultern trug. Eine der Schüsseln hatte einen Sprung, während die andere makellos war. Mit den beiden Schüsseln holte die Frau jeden Tag Wasser vom Fluss.
Am Ende der langen Wanderung vom Fluss zum Haus der alten Frau enthielt die eine Schüssel stets die volle Portion Wasser, die andere war jedoch immer nur noch halb voll. Zwei Jahre lang geschah dies täglich. Die alte Frau brachte immer nur anderthalb Schüsseln Wasser mit nach Hause. Die makellose Schüssel war natürlich sehr stolz auf ihre Leistung. Die Schüssel mit dem Sprung jedoch schämte sich wegen ihres Makels und war betrübt, dass sie nur die Hälfte dessen verrichten konnte, wofür sie gemacht worden war.
Nach zwei Jahren, die ihr wie ein endloses Versagen vorkamen, sprach die Schüssel zu der Frau: „Ich schäme mich so wegen meines Sprunges, aus dem den ganzen Weg zu deinem Haus immer Wasser läuft.“
Die alte Frau lächelte: „Ist dir aufgefallen, dass auf deiner Seite des Weges Blumen blühen, aber auf der Seite der anderen Schüssel nicht? Ich habe auf deiner Seite des Pfades Blumensamen gesät, weil ich mir deiner Besonderheit bewusst war. Nun gießt du sie jeden Tag, wenn wir nach Hause laufen. Zwei Jahre lang konnte ich diese wunderschönen Blumen pflücken und den Tisch damit schmücken. Wenn du nicht genauso wärst, wie du bist, würde diese Schönheit nicht existieren und unser Haus beehren.“ (Quelle unbekannt)
Vom Umgang mit Fehlern
Welch wunderbare Parabel! Als ich sie zum ersten Mal las, überlegte ich nicht, welchen „Sprung in der Schüssel“ ich habe, sondern ob meine verschiedenen „Sprünge“ wohl auch so einen wunderbaren Nebeneffekt haben und welche Menschen in meinem Umfeld es sind, die meinen Makel zu einem Vorteil für mich machen. Denn darum geht es letztendlich in dieser Parabel: Als Mensch mit allerlei Macken und Sprüngen in der Schüssel brauche ich einen gütigen Mitmenschen, der mir meinen Fehler oder Nachteil zum Vorteil geraten lässt, ohne dass die Leistung eines anderen Menschen herabgewürdigt wird.
Erträgt unsere Gesellschaft überhaupt Fehler oder Mängel? Wie gehen wir selbst mit unserem „Sprung in der Schüssel“ um? Ertragen wir ihn oder schämen wir uns für unsere Fehler und Nichtigkeiten? Oder wenden wir unendlich viel Energie dafür auf, unseren „Sprung in der Schüssel“ zu verbergen? Es verlangt schließlich enorme Wachsamkeit, dass wir vor unseren Mitmenschen allzeit makellos dastehen. Dabei kennen die Mitmenschen längst unsere Macke. Da können wir noch so sehr versucht sein, sie zu verstecken.
Jeder Mensch hat einen Sprung in der Schüssel
Und wie ist es, wenn wir zu unserem Sprung in der Schüssel stehen, wenn wir ihn nicht mehr verstecken? Wahre Menschlichkeit geht mit Fehlern von Menschen verständnisvoll und gütig um. Vorsicht! Nur dann, wenn diese Menschen uns nahestehen. Ansonsten hauen wir kräftig auf den Menschen ein, der einen Fehler gemacht hat, der so einen Makel, einen „Sprung in der Schüssel“ hat. So ein Sprung ist ja nicht nur ein Fehler, der halt mal gemacht wird. Dieser Sprung ist ja gewissermaßen ein besonderer Charakterzug, den man nicht einfach abstellen kann. Er begleitet uns ja auf Schritt und Tritt. Er lässt sich nicht so ohne Weiteres abschütteln. Und deswegen ist der Makel auch nicht so einfach zu akzeptieren. Dabei ist es gerade dieser "Sprung in der Schüssel", dieser Charakterzug, der uns zu dem unverwechselbaren Menschen macht, der wir sind. Wir sollten uns daher wegen unseres als negativ erlebten Makels nicht schämen, sondern ihn annehmen. Dann können wir darauf vertrauen, dass es auch Menschen gibt, die uns gerade wegen unseres vermeintlichen Fehlers mögen, schätzen und lieben. Und das gelingt nur, wenn wir uns unseres "Sprungs in der Schüssel" bewusst sind, wenn wir zu ihm stehen und wenn wir offen darüber reden und vielleicht auch lachen können.
Abbildung: © Pexels, Georg Becker
Josch 09.10.2019, 19.47
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