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Du hast doch Komplexe!
Ein erfülltes, glückliches Leben, das ist es, was sich jeder Mensch wünscht. Aber warum gelingt dies nicht so einfach? Was hindert uns daran, rundum zufrieden, erfüllt und glücklich zu sein? Oft geben wir uns selbst vorschnell eine Antwort, ohne länger oder intensiver darüber nachgedacht zu haben. Schließlich kennen wir uns doch zur Genüge, so meinen wir, leben wir doch schon seit unserer Geburt mit uns zusammen. Sobald wir aber beginnen, über uns ernsthaft nachzudenken, ohne Beschönigung, ohne falsche Interpretation, aber auch ohne uns selbst niederzumachen oder unser Selbstbild zu zerstören, kommen irgendwann auch Gefühle zum Vorschein, die man in der Psychologie als Komplexe bezeichnet, intensiv erforscht und beschrieben von Carl Gustav Jung (1875-1961), dem berühmten Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie. Wie sehr die Komplex-Problematik auch heute Thema ist, zeigt Daniel Reinemer mit seinem Buch „Komplexe – und jetzt?“, das im Komplett-Media-Verlag erschienen ist.
Den eigenen Komplexen auf die Spur kommen
Reinemer beschreibt darin, woran man erkennt, welche Komplexformen man selbst oder unsere Mitmenschen ausgebildet haben. Nur wenn wir uns unserer spezifischen Komplexe bewusst sind, wenn wir sie kennen, können wir auch angemessen mit ihnen umgehen, sie behandeln und sie verlieren. Reinemer hat bei seinen Forschungen, vor allem in seiner Praxis als niedergelassener Therapeut, beobachtet, „welch wichtige Stellung Komplexe in unserer seelischen Landschaft einnehmen und wie sehr sie unser Leben formen und gestalten“.
Um aber den eigenen Komplexen auf die Spur zu kommen, ist es wichtig, sich ehrlich mit sich selbst auseinanderzusetzen, oft gelingt dies nur mithilfe anderer Menschen, die einem wohl gesonnen sind, denen es nicht um die eigene Person, die eigenen narzisstischen Bedürfnisse bei dieser Auseinandersetzung geht. Meist gelingt dies am besten mit professioneller Hilfe. Entscheidend sei nämlich, so Reinemer, die Verantwortung für die eigenen Reaktionen nicht anderen oder irgendwelchen, nicht steuerbaren Entwicklungen anzulasten. Die Beschäftigung mit komplexen inneren Themen führt zu Veränderungen, schafft in der Regel Erleichterung, verleiht Hoffnung und bringt wieder Stärke und Zuversicht ins Leben.
Jeder Mensch hat Komplexe
Der Begriff „Komplex“ wird häufig ganz unspezifisch gebraucht, wie schon Hellmuth Benesch in dem von ihm herausgegebenen „Wörterbuch zur Klinischen Psychologie“ feststellte: „Kein anderer der von dem psychoanalytischen Bedürfnis neu geschaffenen Namen und Bezeichnungen hat eine ähnlich weitgehende Popularität erreicht und soviel missbräuchliche Verwendung zum Schaden schärferer Begriffsbildungen gefunden.“ Daher ist es sehr hilfreich, häufige Komplexformen, vom Minderwertigkeitskomplex über den Mutterkomplex bis hin zum gemeinhin bekanntesten aller Komplexe, dem Ödipuskomlex, näher zu beleuchten. Reinemer gelingt das auf einfache und für jeden Leser gut nachvollziehbare Weise. Mit zahlreichen Beispielen unterfüttert zeigt er Wege, Komplexe zu erkennen, zu verstehen und sie in unseren Alltag zu integrieren. Daneben enthält das Buch einige typische Komplexsituationen, die jeder an sich und bei anderen schon erfahren und erlebt haben dürfte. Sehr hilfreich finde ich vor allem die Exkurse im Buch, zum Beispiel zum Thema „Stereotype Reaktionen“, „Perspektivenwechsel“, „Dem Komplex auf die Spur kommen“, „Abwehr“, „Dankbarkeit“ und „Ichstärkung“.
Komplexe müssen nicht heikel sein
Komplexe mögen heikel sein, mit Sicherheit aber betrifft das Thema jeden Menschen. Eigenartigerweise stellte ich zum Beispiel an mir fest, dass ich das Buch in der S-Bahn nur verschämt lesen konnte, hatte ich doch mit dem Komplex zu kämpfen, ich könnte von den Mitreisenden schief angesehen werden: „Aha, ein Mensch mit Komplexen!“
Daniel Reinemer: Komplexe – und jetzt? Wie wir sie erkennen und mit ihnen leben. Komplett-Media-Verlag. München 2018, 191 Seiten, Klappenbroschur, LP 18,99 € ISBN 978-3-8312-0463-2
Daniel Reinemer hat eine eigene therapeutische Praxis in München. Dort arbeitet er mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen und behandelt Traumata und Depressionen bis hin zum Burn-out. Seine Methoden basieren auf den Lehren des Begründers der Analytischen Psychologie Carl Gustav Jung.
Josch 16.02.2020, 16.11
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