Ausgewählter Beitrag
"Der Schöpfer hat uns den Elch gegeben, damit wir keinen Hunger leiden, aber nicht, um ihn zu verkaufen"
Indianer aus Kanada erzählen von ihrem Land
Wir assoziieren Rassismus in Nordamerika zumeist mit den Problemen der Schwarzen. Wir solidarisieren uns – zurecht – mit den Protesten der liberalen US-Amerikaner und gehen auch in Deutschland auf die Straßen, wenn wir von Rassismus, Diskriminierung und Tötung Schwarzer durch Weiße lesen und hören, wie zum Beispiel am 25. Mai 2020 in den USA geschehen. Doch wer protestiert gegen die Diskriminierung und den Rassismus gegen die indigenen Völker in Nordamerika? Zu sehr ist unser Bild vom sogenannten "Indianer" von Literatur und Film geprägt, das den vermeintlich heldenhaften Kampf der Weißen gegen die Ureinwohner Nordamerikas einseitig verklärt. Auch wenn sich dieses Bild in den letzten Jahrzehnten verändert hat, bleiben die indigenen Völker weitgehend im Dunkeln.
Indigene Geschichte und europäische Eroberung
Wie tief der Graben zwischen der weißen kanadischen Bevölkerung und den indigenen Völkern immer noch ist, zeigt ein Streitgespräch, das der Autor des Buches "Unter dem Nordlicht" mit einer Frau mittleren Alters auf einer Hausparty in Thunder Bay führte. Die Frau wünschte sich allen Ernstes, dass in ihrer Stadt keine Indianer mehr leben würden. Denn dann wäre die Stadt sicherer und es gäbe keine sozialen Probleme mehr. Wie sich bei dem Gespräch zeigte, hatte die Frau keine Ahnung von indigener Geschichte und der kanadischen Landnahme. Wie sehr sich indigenes Denken und indigene Kultur vom europäisch geprägten Denken der weißen Bevölkerung unterscheidet, zeigt der Schweizer Historiker Manuel Menrath mit seinem höchst spannenden Erfahrungsbericht, der eigentlich als Habilitationsschrift geplant war. Diesen Plan musste er jedoch wegen der tiefen Betroffenheit, die die Begegnung mit den Indianern – wie er die indigenen Völker in seinem Buch nennt, weil dies für die deutschsprachigen Leser immer noch eine gängige Bezeichnung sei – in ihm auslöste, aufgeben. Aus dem "Gegenstand" der Habilitationsschrift wurden Menschen. Und so wurde daraus ein äußerst menschlicher Bericht.
Michael Menrath mit Chiefs der Cree
Die First-Nation-Gemeinden heute
Menrath zeigt, dass der Graben, der sich durch die kanadische Gesellschaft zieht, nach wie vor sehr tief ist. Es gibt in Kanada 634 vom Staat anerkannte indianische Stammesgemeinschaften, die in etwa 3.000 Reservaten leben. Die meisten sind ans öffentliche Straßennetz angeschlossen, werden aber nur von einer Minderheit der nichtindigenen Gesellschaft betreten. In Kanada werden prozentual zwölfmal mehr indigene Frauen ermordet oder verschwinden spurlos als nicht-indigene.
In den Reservaten gibt es nach wie vor Probleme mit verunreinigtem Trinkwasser, mit Wohnungsnot und mit einer enorm hohen Suizidrate, vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Justin Trudeau ist der erste Premier, der sich in isoliertes Indianergebiet "wagte". Er versprach bei seinem Besuch zu helfen. Solche Versprechen wurden der indigenen Bevölkerung jahrhundertelang gegeben. Sie wurden immer wieder gebrochen, und den schönen Worten folgten bedauerlicherweise keine Taten.
Voraussetzung für eine Annäherung
Eine Annäherung zweier Seiten setzt eine minimale Kenntnis des Lebens und der Denkweise der jeweils anderen Seite voraus. Die indigene Bevölkerung hat das Denken der Landnehmer sehr früh und sehr schnell schmerzhaft zu spüren bekommen. Den europäischen Landnehmern war das Denken und die Kultur der indigenen Völker weitgehend egal. Wie sehr dieses Denken jedoch auseinandergeht, das belegt Menraths Buch von der ersten bis zur letzten Seite. Vorausdenken zum Beispiel ist für die indigenen Menschen unerlässlich, um zu überleben. Geld hat für sie absolut keine Bedeutung. Mit einem Geldschein in der Wildnis kann man allenfalls Feuer machen. Spirituell sein bedeutet nicht, ständig zu beten, Spiritualität ist vielmehr die Beziehung, die man mit den anderen Lebewesen hat. Gewinnbringenden Handel im Sinne europäischen Denkens gab es bei den Cree bzw. den Ojibwe – zwei Stämme, mit denen der Autor hauptsächlich Kontakt hatte – nicht. Handel war eher Tauschen: Man gab dem anderen etwas, was dieser gebraucht hat, und bekam von ihm etwas, was man selbst nötig hatte. Besitzen konnte man nur, was man auf die Wanderschaft mitnehmen konnte, meist ein Beil, ein Messer oder ein Gewehr. Oder: "Der Schöpfer hat uns den Elch gegeben, damit wir keinen Hunger leiden, aber nicht, um ihn zu verkaufen", wie es ein Elder ausdrückte. Elder ist mit "Ältester" nicht gut übersetzt. Als Elder wird jemand bezeichnet oder genannt aufgrund seiner Erfahrung, seines Wissens sowie seiner Taten zum Wohl der Gemeinschaft. Übrigens: Das Buch enthält ein ausgezeichnetes Glossar mit den wichtigsten Namen, Bezeichnungen und Begriffen, die das Lesen des Buches sehr erleichtern und zum besseren Verständnis indigenen Denkens beitragen.
Das nördliche Ontario ist seit 5.000 Jahren besiedelt, was archäologische Funde belegen. Vor Ankunft der Europäer gab es zwischen sieben und fünfzehn Millionen Indianer in Nordamerika. Ende des 19. Jahrhunderts waren in den USA nur noch 237.000 und in Kanada 125.000 "Indianer" übrig geblieben.
Die Geschichte der europäischen Eroberung Nordamerikas ist auch eine Geschichte des multiplen Missbrauchs, leider wie so oft auch im Namen Jesu Christi. Die Cree jedoch haben sehr fein zwischen Botschaft und Botschafter unterschieden. Die Weißen haben sich ihren Gott in circa 3.000 Jahren gebastelt, bis er so war, wie sie ihn brauchten. Sie führten Kriege im Namen Gottes. So etwas kannten die indigenen Völker Nordamerikas nicht.
Fazit
Menrath ist mit seinem Buch ein sehr sensibler Bericht über die mannigfache Unterdrückung der indigenen Bevölkerung in Kanada gelungen. Es zeigt den rücksichtslosen Abbau der reichen Bodenschätze in den Gebieten, die die Cree und Ojibwe seit Menschengedenken besiedeln, an deren Erträgen sie jedoch so gut wie nicht beteiligt werden. Dieser Raubbau aber zerstört die Lebensgrundlagen der Ureinwohner. Man wünscht dem Buch eine weite Verbreitung, damit auch die indigenen Völker Nordamerikas stärker in unser Bewusstsein gerückt werden. Wenn man ihr Leid betrachtet, blutet einem das Herz. Das Buch ist ein wesentlicher Beitrag zur Förderung des Friedens, zum Abbau von Vorurteilen und zum Abbau von Rassismus.
Autor: Manuel Menrath, geboren 1974, ist lehr- und forschungsbeauftragter Historiker der Universität in Luzern. Für sein Buch "Mission Sitting Bull", zugleich seine Dissertation, wurde er mit dem Opus Primum Preis der VolkswagenStiftung ausgezeichnet. Seit 2011 bereist Menrath regelmäßig das indianische Nordamerika, um mehr über die Geschichte und Kulturen der ersten Völker dieses Kontinents zu erfahren.
Unter dem Nordlicht. Indianer aus Kanada erzählen von ihrem Land. Galiani Berlin. 480 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag. LP 26,00 € (D) / 26,80 € (A)
Josch 18.10.2020, 17.08
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