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Ein Text, der mir zu denken gibt

Hälfte des Lebens ...

... war ein Beitrag in der Rubrik "Ein Text, der mir zu denken gibt" in einer religionspädagogischen Fachzeitschrift überschrieben. In dieser Rubrik stellten Autoren einen kurzen Text vor, mit dem sie eine einschneidende Erfahrung in ihrem Leben verbanden. Ein Text, der mir bis heute zu denken gibt, war von meinem damaligen Vorgesetzten und Lektoratsleiter verfasst. Er zitierte den zweiten Teil von Friedrich Hölderlins Gedicht „Hälfte des Lebens“:


Weh mir, wo nehm ich, wenn

Es Winter ist, die Blumen, und wo

Den Sonnenschein

Und Schatten der Erde?

Die Mauern stehn 

Sprachlos und kalt, im Winde

Klirren die Fahnen.




Ich erfuhr in diesem Text über meinen Chef, dass er im November 1944, nachdem er einundzwanzigjährig den Einberufungsbefehl erhalten hatte, mit einem Freund vor dem braunen Moloch in die Berge bei Lenggries geflüchtet war, wo sie sich in einer Blockhütte versteckten und das Ende des Krieges abwarteten. Nur eine Bäuerin wusste von ihnen. Von ihr holten sie sich einmal in der Woche einen Laib Brot und eine Handvoll Schmalz. In der Hauptsache ernährten sie sich von einem Doppelzentner Roggen, den sie nachts in Rucksäcken in die Hütte hinauftrugen. Um die bedrohliche Situation auszuhalten und durchzustehen, lebten sie streng wie in einem Kloster mit Laudes am Morgen, Arbeit während des Tages an Texten und Komplet am Abend. Ganz wichtig waren ihnen ihre Bücher, die sie mit auf die Hütte geschleppt hatten, unter anderem Gedichte von Rilke und Hölderlin und eine dreibändige Platon-Ausgabe. Mein Chef studierte Platon, über den er später promovierte. Sie blieben den ganzen Winter über in der Hütte, bis die amerikanischen Panzer im Mai 1945 den Isarwinkel erreichten.


Texte, die mich tief berühren

Als ich vor Kurzem überlegte, welches Buch ich rezensieren könnte, fiel mir dieser Text wieder ein, und ich fragte mich, welches Buch, welcher Text oder welches Gedicht in meinem Leben so eine existenzielle, programmatische Bedeutung habe. Es gibt unendliche viele Texte, die mich sehr beeindruckt und oft monatelang beschäftigt haben, was nicht zuletzt mit meinem Beruf als Lektor zu tun hat. Aber einen Text, der aus allen Romanen, Sachtexten und Gedichten heraussticht und der für eine bestimmte Zeit in ganz besonderer Weise mit meinem Leben verbunden ist, den gibt es nicht. Ich war auch nie in einer derart existenziell bedrohlichen Lage wie mein damaliger Chef, der mit Willi Graf eng befreundet war und die Vorlesungen von Professor Kurt Huber besucht hatte.


Gedichte und Prosa

Es gibt eine ganze Reihe wunderschöner Gedichte und beeindruckender Romane, die mir sozusagen ans Herz gewachsen sind und die ich schon mehrmals gelesen habe, darunter mehr als 30 Gedichte, die ich auswendig kann und die ich mindestens einmal in der Woche vor mich hinsage.

Was sagt es über mich aus, wenn ich einen Roman rezensiere und über ihn schreibe, wie sehr er mich beeindruckt hat, wie intensiv ich in seiner Welt lebe und wie sehr ich mir wünsche, dass es auch anderen Menschen so gehe, dass sie sich eventuell mit mir über die Gedanken und Fantasien austauschen, die der Text in uns ausgelöst hat?

Je älter ich werde, desto mehr Wert lege ich darauf, was der Text mit mir macht, ob er zu einer tieferen Einsicht führt, ob er mein Denken verändert, ob er das Potenzial hat, mich von Vorurteilen zu befreien und schräge Seiten zu begradigen.


Ein Text, der mir zu denken gibt

Vor zwei Jahren schenkte mir ein Freund zu meinem Geburtstag eine viertägige Wanderung, von der ich auch auf diesem Blog berichtete Wandern ist Gehen in der Landschaft. Bei dieser Wanderung auf den Spuren Tilman Riemenschneiders schenkte mir mein Freund dieses Gedicht oder Gebet mit dem Titel Lovesong von Sören Callsen. Ich sage es nahezu täglich vor mich hin und lasse es auf mich wirken:


Ich darf den Tag schon vor dem Abend loben,

denn wenn es Nacht wird, weiß ich dich bei mir.

Bei dir ist meine Dunkelheit gut aufgehoben,

sobald Dämonen mein Gemüt umtoben,

schickst du sie weg – und sie gehorchen dir.


Ich darf den Tag schon vor dem Abend loben,

denn keine Zeit hat uns einander fremd gemacht.

Das Leben lebt, wir sind mal unten, sind mal oben,

doch immer miteinander wunderbar verwoben,

wir wachsen – und wir geben aufeinander acht.


Ich darf den Tag schon vor dem Abend loben,

Denn jeder Tag ist auch ein Tag mit dir.

Wenn unser Abend kommt, entschweben wir nach oben

und freuen uns, das nächste Stück zu proben,

verrückte Welt – was sind wir gerne hier.

Abbildung: ©pexels/dayan rodio


Josch 31.07.2022, 12.19

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Kommentare zu diesem Beitrag

1. von Christel Boßbach

Das erinnert mich an ein Konzert mit einem Gospelchor und dem Song "It's a good day
..." - weil ich noch am Leben bin. Eine mitreißende Melodie, die mir oft morgens beim Aufstehen durch den Kopf geht.


vom 23.09.2021, 16.20
Antwort von Josch:

Ob Musik oder Wort, zwei Ausdrucksformen für das gleiche Phänomen. Danke
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