Ausgewählter Beitrag
Freies Liebesleben unter hasserfüllten Spießern
Ein unglaubliches Buch. Unglaublich sein Inhalt. Unglaublich die Arbeit, die Mühe, das Detailwissen, das in diesem Buch steckt. Unglaublich, weil es einen Gegenentwurf darstellt zu all dem, was normalerweise über die dunkelste Zeit deutscher Geschichte publiziert wird und was wir offenbar kaum oder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen haben. Es beschreibt die Liebe in Zeiten zunehmenden Hasses, eine Liebe, wie sie nur Künstler bzw. Intellektuelle ausleben konnten. Die breite Masse jedenfalls schien davon nichts gewusst zu haben, wie sie auch von den Gräueltaten nichts gewusst hat, wie nach dem Ende des Schreckens vielfach behauptet wurde. Das »Nichtwissen« kam den Künstlern entgegen. Denn hätte die Öffentlichkeit von Schwulen und Lesben, von offenen Partnerschaften und ständigen Partnerwechseln gewusst, wäre manch Liebende bzw. Liebender für immer in den Gefängnissen und Konzentrationslagern verschwunden.
Namen, die unvergessen sind
Von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, über Marlene Dietrich, Mascha Kaléko, Klaus und Erika Mann, Gründgens, Picasso, Gottfried Benn, Bert Brecht, Lion Feuchtwanger, Magnus Hirschfeld und Christopher Isherwood, Albert Einstein, Billy Wilder, Kurt Tucholsky, Erich Mühsam, Vladimir Nabokov, Josephine Baker, Anais Nin, Henry Miller, Alma Mahler, Ruth Landshoff, Franz Werfel, Stefan Zweig, Hugo von Hofmannsthal, Otto Dix, Erich Kästner bis hin zu Else Lasker-Schüler, Franz Marc, Hannah Arendt und Heinrich Blücher, um nur einen Bruchteil der Künstler und Intellektuellen zu nennen, deren Liebesleben Florian Illis in seiner »Chronik eines Gefühls« beschreibt, erfahren wir von einer atemberaubenden Offenheit und Freiheit des Liebeslebens, wie man es sich kaum ausmalen kann. Dagegen erscheint die heutige Gesellschaft geradezu prüde und verklemmt.
Buntes, lebensfrohes Bild in düsteren Zeiten
Das alles ist so spannend und schlüssig geschildert, dass das Buch locker mit einem Krimi mithalten kann. Aber der Inhalt ist alles andere als Fiktion. Ich selbst habe mich viele Jahre mit dem Oevre Stefan Zweigs und Lion Feuchtwangers beschäftigt. Doch was Illis zum Beispiel über Feuchtwanger auspackt, war mir bisher nicht bekannt. Ich habe mir daraufhin die Tagebücher von Lion Feuchtwanger, die unter dem Titel Ein möglichst intensives Leben erschienen sind, zugelegt, um kopfschüttelnd zu lesen, mit wie vielen Frauen er oft an einem Tag geschlafen hat und was er auch noch ganz offen seinem Tagebuch anvertraute.
»Jedes Tier kann es«
Im Klappentext des Buches heißt es: »Als wären Hingabe und Liebe vorläufig die einzig möglichen Antworten auf den von den Nationalsozialisten geschürten Hass, sind die Dreißigerjahre voll der kühnsten, schönsten, aussichtslosesten Affären und größten Romanzen.«
Bertolt Brechts Freundin Ruth Berlau schreibt 1938 das Buch »Jedes Tier kann es«, in dem es um die körperliche Liebe geht, »um das, was die Menschen verlernt haben, als sie im Bett ihren Kopf einschalteten«. Es ist so etwas wie die Kernbotschaft von »Liebe in Zeiten des Hasses« und damit hat es auch für uns Heutige eine unbeschreibliche Strahl- und Aussagekraft.
Hinweis
Wer jemals eine wissenschaftliche Arbeit, eine Bachelor-, Diplom, Master-, Magister-, Doktorarbeit oder eine Habilitationschrift verfasst hat, der weiß, wenn er das Quellenverzeichnis des Buches liest, was Florian Illies bei diesem Buch geleistet hat. Es ist bewundernswert. Und nicht nur deswegen möchte ich das Buch jedem Menschen ans Herz legen, der schon einmal verliebt war, geliebt oder Trennungsschmerz empfunden hat.
Über den Autor
Florian Illies, geboren 1971, studierte Kunstgeschichte in Bonn und Oxford. Er war Feuilletonchef der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« und der »ZEIT«, Verleger des Rowohlt Verlages, leitete das Auktionshaus Grisebach und war Mitbegründer der Kunstzeitschrift »Monopol«. Heute ist Florian Illies Mitherausgeber der »ZEIT« und freier Schriftsteller. Er lebt in Berlin.
Florian Illies: Liebe in Zeiten des Hasses. Chronik eines Gefühls 1929 – 1939. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2021. ISBN 978-3-10-397073-9. 432 Seiten. LP 24,00 €
Josch 10.07.2022, 14.18
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