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Der Schädelbohrer von Fichtenwald

Die NS-Realität ist nur als eine Art Varieté erträglich

Friedolien, ein buckliger Barpianist und einer der beiden Ich-Erzähler des Romans von Louis Ferron, setzt alles daran, Teil der neuen Herrenmenschen-Elite zu sein. Und das gelingt nur, wenn er die Realität als Patient im Sanatorium Fichtenwald, das in Wahrheit ein Konzentrationslager ist, einfach nicht wahrnimmt und sie sich schönredet. Das geht so weit, dass er sogar eine ausrangierte Uniform trägt und mit einem Eisernen Kreuz dekoriert wird, das man ihm für seine Dienste als Sekretär des Lagerarztes verleiht, der menschenverachtende Experimente an den Gefangenen durchführt. Aus Sicht von Friedolien geschieht das alles in einer »Atmosphäre geschützter Abgeschlossenheit«. Daneben musiziert der bucklige Friedolin mit der Sängerin Irmgard Zelewski, die in unmittelbarer Nähe des »Sanatoriums« mit ihrem Mann Erich in einem herrschaftlichen Haus wohnt, das Erich mit Unmengen enteigneter Kunst vollstopft.



Eine Villa, ein Sanatorium und ein verliebter Buckliger

Viele dieser Bilder können gar nicht ausgepackt werden, da zu wenig Platz und Zeit dafür ist. Erich Zelewski konkurriert mit seiner Sammlerwut mit Hermann, dem Reichsmarschall, der vorwiegend in blütenweißer Uniform auftritt. Als der schwarz-uniformierte Reichsführer Heinrich den Zelewskis einen Besuch abstattet, führt Irmgard ihm zu Ehren zusammen mit Friedolien ein von ihr verfasstes Theaterstück auf, das bedauerlicherweise ausartet und zur Degradierung Friedoliens führt. Er, der Irmgard hörig war, bricht daraufhin mit ihr und stellt sich fortan in den Dienst Staengls, dem Archivar des Sanatoriums. Er verliert seinen Orden und muss seine Uniform mit einer Sträflingskleidung eintauschen. Als Friedolien eines Tage beobachtet, wie die reiche jüdische Familie Benda mit ihrer sehr hübschen Tochter Rebecca eingeliefert wird, ist es um ihn geschehen. Ab sofort gilt sein ganzes Trachten nur noch Rebecca, die ihn aber keines Blickes würdigt und ihn abfahren lässt, wie es sich eben nur junge Frauen erlauben können, die um ihre Wirkung auf Männer wissen. Auch Rebecca zeigt verrückte Züge. Sie sammelt große Mengen Suppe, die sie in eine Grube gießt, um für schlechte Zeiten vorzusorgen.

 

Im Sanatorium macht Arbeit nicht frei

Über allem aber steht der Leitspruch des Sanatoriums »Arbeit macht frei«. Spätestens hier weiß der Leser, dass es sich nicht um ein Sanatorium handelt, sondern um ein Konzentrationslager. »Seltsam dachte ich, Anstand scheint in diesem Land der Schlüssel zu vielem zu sein. Der eine leitet daraus seine Mordlust ab, der andere lehnt jeglichen Anstand ab und hält es nach einer simplen Abwägung für möglich, so sein Leben retten zu können«, geht es Friedolien durch den Kopf, als er wieder einmal mit Benda spricht, über den er an Rebecca heranzukommen hofft.

Als sich bei einer Untersuchung Friedoliens herausstellt, dass dieser gar keinen Buckel hat, sondern dass sich der Buckel als Ablageplatz von Schreibheften entpuppt, die eine Art Tagebuch sind, und Damenunterwäsche wie Höschen, Büstenhalter und Hüfthalter, ist es auch um ihn geschehen. Friedolien versucht, »seine Wahnwelt zu zähmen, indem er sie beschreibt«. Und ab dem Zeitpunkt fehlt von Friedolien jede Spur. Der neue Ich-Erzähler ist der leitende Lagerarzt Jankowsky, der sich nach der Befreiung durch die Amerikaner sogleich mit Captain Roth anfreundet und damit straffrei ausgeht. So »wie im richtigen Leben ...« auch.

 

Hinter den Figuren des Romans stehen historische Personen

Wie der niederländische Literaturwissenschaftler Jan Konst im Nachwort des Buches schreibt, wurde in den Niederlanden der historischen Realität, auf die sich Ferron bezieht, wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Und hierzulande gab es bis dato das Buch in deutscher Sprache gar nicht. Es ist die Leistung des Verlages Das kulturelle Gedächtnis, diesen wichtigen Roman in deutscher Sprache und in einer für den Verlag obligaten splendiden Ausführung herauszugeben. Die Figuren des Romans sind hauptsächlich von historischen Persönlichkeiten inspiriert, so wie das Konzentrationslager in Dachau den Hintergrund für das im Roman als »Sanatorium« bezeichnete Fichtenwald bildet.

 

Fazit

Da allmählich die Zeitzeugen altersbedingt aussterben, ist es umso wichtiger, sich mit dieser furchtbaren Thematik zu beschäftigen, damit sie nie in Vergessenheit gerät. Je mehr man in diese dunkle Phase deutscher Geschichte einsteigt, desto plausibler wird Ferrons Ansatz: Diese Realität ist nur als Revue, als Cabaret, als »groteske Verzeichnung und kontrafaktische Darstellung« zu ertragen. Ich kann die Lektüre dieses Buches nur jedem ans Herz legen.

 

Über den Autor

Louis Ferron (*4. Februar 1942, * 26. August 2005), unehelicher Sohn einer niederländischen Mutter und eines deutschen Wehrmachtssoldaten, lebte zeitweise als Pflegekind bei der Ehefrau seines Vaters. Nach Kriegsende kehrte er in die Niederlande zurück. Die Auseinandersetzung mit seiner Herkunft und die Faszination für die dunklen Seiten der deutschen Geschichte prägten sein literarisches Schaffen. »Der Schädelbohrer von Fichtenwald« erschien 1976. Ferron erhielt zahlreiche Auszeichnungen.

 

Louis Ferron: Der Schädelbohrer von Fichtenwald oder Die Metamorphosen eines Buckligen. Übersetzt von  Ulrich Faure. Verlag Das kulturelle Gedächtnis. Berlin 2003. 448 Seiten, gebunden mit Kopffarbschnitt und Prägung. ISBN: 978-3-946990-74-1, 28,00 €

Josch 28.04.2023, 17.22

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