Ausgewählter Beitrag
Der Artikel „Finger weg“ in der Süddeutschen Zeitung vom 23./24. April 2016 von Karin Steinberger macht mir erschreckend bewusst, dass ich mich bisher an dem Problem unterschiedlicher Kulturen in unserer Zuwanderungsgesellschaft vorbeigedrückt habe. Oder sollte ich besser sagen, dass ich bisher ganz schön naiv war?
Für mich gibt es keinen Zweifel, dass Zuwanderung einen enormen Gewinn für unsere Gesellschaft darstellt. Zuwanderung ist auf lange Sicht nicht nur wirtschaftlich ein Gewinn, Zuwanderung kann unsere westliche, an christlichen Werten orientierte Kultur auch bereichern. In meiner Zuwanderungseuphorie wollte ich von tiefreichenden Konfliktfeldern, die damit auch verbunden sind, einfach nichts wissen. Das gravierende soziale, religiöse und ethische Konfliktpotenzial zwischen Zuwanderern aus dem vom Islam geprägten Kulturkreis und unserer westlichen, weitgehend von christlichen Werten geprägten Gesellschaft lässt sich nicht so ohne Weiteres bereinigen. Die Integration der Zuwanderer in unsere Gesellschaft wird nur gelingen, wenn beide Seiten kompromiss- und lernbereit sind, wenn überkommene Wertvorstellungen hinterfragt und revidiert werden. Selbstverständlich werden wir niemals unsere moralisch freiheitlich geprägten Werte aufgeben, die unsere Vorfahren zum Teil hart erkämpft haben. Wir werden nicht in eine männlich dominierte Gesellschaft zurückfallen, nur weil moslemische Männer mit emanzipierten Frauen nicht zurechtkommen. Argumentiert wird dann oft mit den vermeintlichen Tugenden „Ehre“ und „Stolz“.
Nehmen wir zum Beispiel den Begriff „Stolz“. „Stolz“ gehört im christlichen Glauben zu den sieben Haupt- oder Todsünden. Hauptsünden stellen Laster dar, aus denen alle anderen Sünden hervorgehen. „Stolz“ ist die erste dieser Hauptsünden. Stolz ist nach christlichem Verständnis keine Tugend, sondern ein Übel, ein Makel.
Und "Ehre" gebührt nach christlichem Verständnis ausschließlich Gott. Wir ehren allenfalls noch das Alter, den alten Menschen. Aber wir beanspruchen nicht für uns selbst so etwas wie „Ehre“. Ehre gehört in die kulturelle Mottenkiste. Vielmehr begegnen wir uns heute mit Respekt und Achtung, mit Toleranz und Verständnis.
Wenn eine Frau einen kurzen Rock oder eine enge Bluse trägt, die ihre weiblich-erotischen Formen betont, heißt das nicht, dass sie damit für jeden Mann verfügbar ist. Das hat weder mit Stolz noch mit Ehre zu tun. Dass eine Frau sich so kleiden kann, wie sie es möchte, ist auch ein Ausdruck von Emanzipation, die zeigt, dass Mann und Frau gleichwertig sind, nicht mehr und nicht minder.
Ich habe nach der Lektüre des oben genannten Artikels in der Süddeutschen Zeitung den Eindruck, dass mancher junge Moslem aus der Schockstarre, in die ihn verschiedene Erscheinungen und Ausprägungen von Freiheit und Emanzipation in unserer Gesellschaft versetzen, allein und ohne fremde Hilfe nicht herauskommt. Es kann auch keine Lösung sein, sich einfach aus der Welt ins stille Kämmerlein zurückzuziehen und die Augen vor vermeintlich verwerflich sexualisiertem Verhalten der Frauen zu verschließen und diese zu verteufeln. Dass in unserer Gesellschaft Frauen und Männer gleichberechtigt sind, dass Frauen nicht nur fürs Teekochen zuständig sind, ansonsten den Männern sexuell zur Verfügung zu stehen haben, dass sie möglichst viele männliche Nachkommen zur Welt bringen sollen, das steht westlichem Denken und der Emanzipation diametral entgegen.
Unsere Gesellschaft hat für unsere Freiheit einen über 100 Jahre langen Kulturkampf hinter sich, der immer noch nicht abgeschlossen ist. Begünstigt wurde dieser ungemein lange Emanzipationsprozess der Frau auch durch die furchtbaren Weltkriege im letzten Jahrhundert, deren Folgen ohne tatkräftige Frauen niemals behoben worden wären.
Tiefgreifende Veränderungsprozesse dauern lang. Sie sind meist auch nicht allein zu bewältigen. Sie sind meines Erachtens nur mithilfe sozialer und therapeutischer Einrichtungen möglich. Wir haben noch einen sehr sehr langen Weg vor uns. Dieser Prozess garantiert nicht, dass jeder das Ziel erreicht. Wir werden uns von idealisierten und naiven Vorstellungen verabschieden und uns mehr mit den ethischen und psycho-sozialen Problemen beschäftigen müssen. Und wir müssen uns auch auf Niederlagen und Scheitern bei diesem Prozess gefasst machen, so schmerzlich und ernüchternd es auch sein mag. Das hat mir die Lektüre dieses ausgezeichneten Artikels in der SZ deutlich gemacht.
Josch 25.04.2016, 15.17
Danke für die Einordnung der Begriffe Stolz und Ehre in einen christlichen und unseren modernen westlichen Kontext. Ich habe selbst erlebt, wie belastend und letztlich zerstörerisch solche Emotionen für eine Beziehung sein können.
Zum Rollenverständnis muslimisch sozialisierter Männer: Die Älteren unter uns erinnern sich gewiss an die sogenannte sexuelle Befreiung der 1970er Jahre. Damals haben auch deutsche Männer einen Minirock, ein freundliches Lächeln, einen bloßen Flirt oft ganz falsch interpretiert. Und weil sich unsere Gesellschaft inzwischen so verändert hat, dass weder Frauen noch Männer auf ein simples Rollenverständnis festgelegt sind, weil auch „unsere“ Männer nun emanzipiert sind, hege ich die Hoffnung, dass die Integration gelingen kann. Denn eine aufgeklärte, emanzipierte und pluralistische Gesellschaft bedeutet einfach weniger Stress – für Gruppen, Familien und Individuen.
Deshalb: Finger weg und Kopf hoch!
Barbara Rias-Bucher
vom 28.04.2016, 12.30
Es hat auch damals ziemlich lang gedauert, bis sich in den Köpfen der Männer - und auch der Frauen - etwas geändert hat. Und das ist heute nicht anders. Veränderungen, zumal den gravierenden, von der jeweiligen Erziehung verursachten "Wertvorstellungen". Und dieser Veränderungsprozess verlangt ein Mit- und Zueinander auf beiden Seiten, wie ich meine...