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Das eigene Schreiben reflektieren?

Wenn ich mich mit großen Literaten beschäftige, solchen, die seit Langem einen festen Platz in der deutschen Literaturgeschichte haben, stelle ich immer wieder erstaunt fest, wie intensiv sie oft den Prozess ihres Schreibens reflektiert haben. Sie schufen Figuren, denen sie fiktional „Leben einhauchten“, die bestimmte Funktionen in ihrem jeweiligen Werk (Roman) haben, eine Art Eigendynamik zu entwickeln scheinen, dann aber abberufen werden, sozusagen „sterben“ müssen, wenn sie ihre Funktion im Text erfüllt haben.



Häufig ist mit einer bestimmten Figur eine schicksalhafte Wendung verbunden. Manchmal habe ich den Eindruck, dass manche Autoren während des Schaffensprozesses geradezu mit ihren Figuren lebten und mit ihnen ihr Schicksal durchlitten. So schreibt beispielsweise Ludwig Thoma an seine Freundin Maidi von Liebermann über seine Romanfigur Ruepp (Der Ruepp, erschienen posthum 1922): „Jetzt habe ich noch eine harte Nuss; eine realistische Schilderung, wie der heruntergekommene Bauer bei einem Tagelöhner Schaps sauft, dann noch eine Szene mit seiner Frau, wo er sie bittet, für ihn den Meineid mitzuschwören. Dann aber hänge ich meinen alten Freund im Walde auf. Requiescat in pace ...“

Oder nehmen wir zum Beispiel Thomas Mann, der wie kein anderer sein Schaffen reflektierte und kommentierte. Hier zum Beispiel eine Tagebuchnotiz vom 2. Januar 1947 über die Entstehung seines Romans „Doktor Faustus“ (erschienen 1947): „Ich brauchte siebzehn Tage für das vorletzte Kapitel – das letzte eigentlich, denn der Schluss sollte als Nachschrift gefasst sein. Adrians Ansprache ging mir so zu Herzen, wie sie mir tief vom Herzen kam, und nur die alte Gewohnheit, das Politische neben dem Dichterisch-Menschlichen hergehen zu lassen und zwischen den Sphären hin und her zu wechseln, macht mir begreiflich, dass ich dabei von Tagesereignissen Notiz nahm ...“

Ganz anders reflektierte zum Beispiel Arthur Schnitzler sein literarisches Schaffen. Ihm ging es vorwiegend um die theoretische Begleitung, weniger um die emotionale Kommentierung. In Bezug auf Humor, Ironie und Witzelei beispielsweise sollte ein Autor keinesfalls „über seine eigenen Figuren gerührt“ sein. Wenn er „sich über sie lustig“ macht, dann zeuge das von „schlechtem Geschmack“. Solche Aussagen belegen, dass es Schnitzler wichtig war, zu seinen fiktiven Figuren Distanz zu wahren, da es ihm sonst unmöglich gewesen wäre, ein Geschehen angemessen darzustellen.

Wie nur wenige Literaten hat Lion Feuchtwanger sein literarisches Schaffen reflektiert und begleitet. So schreibt er zum Beispiel über das erste Buch der Wartesaal-Trilogie „Erfolg“, eines seiner erfolgreichsten Bücher überhaupt: „Ich durfte zum Beispiel die Sympathie nicht unterdrücken, die ich für einzelne meiner Menschen spüren mochte, auch wenn meine Vernunft erkannt hatte, dass alles, was diese Menschen dachten, lebten, waren, der Gesellschaft Schaden bringen musste. Ich durfte ferner nicht vorbeigehen an den unsympathischen Eigenheiten solcher Menschen, die mir als Gesamterscheinung nützlich und bejahenswert vorkamen. Es wäre das nicht nur vom moralischen Standpunkt falsch gewesen, sondern auch vom künstlerischen. Es wäre töricht gewesen, es hätte das Werk gefährdet.“ Es gibt eben kein Gut oder Schlecht, kein Schwarz oder Weiß, sondern jede Figur hat ein Gut und ein Schlecht, ein Schwarz und ein Weiß.

Eine höchst ironische Form der Reflexion bzw. der Bewertung seines literarischen Schaffens liefert uns Thomas Bernhard in seinem grandiosen Roman „Auslöschung“, wenn er bereits auf der ersten Seite seinen Protagonisten Franz-Josef Murau fünf Bücher empfehlen lässt, mit denen sich Muraus Schüler Gambetti beschäftigen solle: „Siebenkäs von Jean Paul, Der Prozess von Franz Kafka, Amras von Thomas Bernhard, Die Portugiesin von Musil, Esch oder Die Anarachie von Broch...“ Damit stellt sich Thomas Bernhard selbst in die Reihe der nach seiner Auffassung fünf bedeutendsten Schriftsteller, die stellvertretend für die gesamte deutsche Literatur stehen dürfen.

Diese Beispiele zeigen uns auf ganz unterschiedliche Weise, wie intensiv sich die Literaten mit ihrem Werk, ihrem Schaffen, ihren Figuren auseinandergesetzt haben. Es ist nichts Zufall. Es hat alles eine Bedeutung. Alles folgt einem genauen „Bauplan“. Und gerade deswegen gehören solche Werke zur gehobenen Literatur, die für immer Bestand haben. Sie veralten nicht, sind nicht überholt, sie konfrontieren uns mit fiktiven Ereignissen, Veränderungsprozessen, Wertsystemen etc., damit wir die Gegenwart besser begreifen können.

Es ist allerdings ganz wichtig, dass es nicht nur solche Literatur gibt, wie wir sie im Deutschunterricht kennenlernten und wegen der so mancher das Fach Deutsch hassen lernte. Es ist wichtig, dass es Literatur gibt, die der reinen Unterhaltung dient, Romane, die zeigen, wie eine Liebesbeziehung idealerweise sein könnte, oder Romane, die uns in eine Fantasiewelt entführen, erotischen Vampirismus etc. Aber wie lange bleiben uns diese Texte im Gedächtnis? Und damit meine ich nicht die Story, sondern zum Beispiel einen Konflikt, den der Text thematisiert, und welche Konfliktlösungen bietet uns der Text an? Was wissen wir nach drei oder vier Jahren noch von dem Roman? Gibt es Passagen, die unser Denken verändert oder zumindest erheblich beeinflusst haben? Daher lohnt es sich auch, immer wieder einmal zu den ganz großen literarischen Werken zu greifen und uns damit zu beschäftigen. Vielleicht ändert sich dadurch ja auch unser eigenes Schreiben und unsere Sicht auf Literatur und Kunst.

Verwendete Literatur: Keller, Anton: Ludwig Thoma. Ein Leben in Briefen. München 1963; Bürgin, Hans/Mayer, Hans-Otto (Hrsg.): Thomas Mann. Eine Chronik seines Lebens. Frankfurt 1965; Hofe, Harald von/Washburn, Sigrid (Hrsg.): Lion Feuchtwanger. Briefwechsel mit Freunden. Berlin und Weimar 1991; Jaretzky, Reinhold: Lion Feuchtwanger. Reinbek b. Hamburg 1984; Just, Gottfried: Ironie und Sentimentalität in den erzählenden Dichtungen Arthur Schnitzlers. Berlin 1968; Bernhard, Thomas: Auslöschung. Frankfurt/M. 1986


Josch 01.05.2016, 20.34

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