Ausgewählter Beitrag
Als ich vor Kurzem nach einer alten Video-Aufnahme suchte, fiel mir ein Tagebuch in die Hände, von dem ich gar nicht wusste, dass es noch existiert. Und statt weiter nach der Kassette zu suchen, blätterte ich in meinem Memorial und las mich prompt fest. Längst vergessene Ereignisse, Reiseberichte und Träume standen wieder ganz plastisch vor meinem inneren Auge. Es war vor allem eine Begegnung vor über zehn Jahren, die mich nicht mehr los ließ und über die ich lang nachdenken musste.
Ein Regentag auf Koh Phangan
Wir waren in Thailand, auf Koh Phangan. Neben unserem Bungalow machte ein Psychologe aus Dänemark mit seiner Frau und seiner 15-jährigen Tochter Urlaub. Zuerst tauschten wir nur Belanglosigkeiten aus, wenn wir uns im Restaurant oder am Strand begegneten. An einem Tag, an dem es in Strömen goss, saßen wir zufällig nebeneinander auf der Terrasse des Restaurants, tranken Singha-Bier, rauchten und kamen ins Gespräch, das, obwohl wir uns kaum kannten, sehr schnell eine ungewöhnliche Tiefe gewann. Ich sprach von meinen Träumen und Sehnsüchten, von den unerfüllten Wünschen und den verpassten Gelegenheiten, die jedoch insgesamt meinem Leben eine zwar unerwartete, aber durchaus positive Richtung gaben. Ganz im Stil eines Therapeuten hörte mir Asger, wie mein Gesprächspartner mit Vornamen hieß, zu und dirigierte mich durch geschickte Fragen dorthin, wo er mich haben wollte, wie mir im Nachhinein schien.
Wünsche und Sehnsüchte
„Wünsche sind dazu da, erfüllt zu werden. Werden sie nicht erfüllt, waren es offenbar keine existenziellen Wünsche, sonst wären sie in Erfüllung gegangen.“ Das war so eine Aussage, die ich im Tagebuch notiert und unterstrichen hatte.
Wir kamen zur Sehnsucht: „Verbirgt sich hinter der Sehnsucht nicht häufig ein schon mal erlebter glücklicher Zustand? Je größer der zeitliche Abstand dazu, desto stärker die Idealisierung. In der Erinnerung scheint es ein geradezu vollkommener Zustand gewesen zu sein. Die schmerzhafte Seite der Sehnsucht ist jedoch das Gefühl, selbst unvollkommen zu sein.“
Mir fiel ein, dass ich an dieser Stelle versucht hatte, mich herauszureden, weil das Gespräch eine mir unangenehme Richtung nahm. Traf er mit seinen Aussagen nicht den Kern dessen, was mir vielleicht vorbewusst war oder was ich einfach zu verdrängen versucht hatte? Auf jeden Fall hatte mich Asger zutiefst getroffen, und da wollte ich am liebsten nicht weiter hineinbohren lassen.
Liebe ist kein Tauschhandel
Mein Gesprächspartner spürte das offenbar, denn er drang nicht weiter in mich, sondern versuchte, unserer Unterhaltung eine weniger schmerzhafte Richtung zu geben. Das war mir aber auch unangenehm, wie ich in meinem Tagebuch vermerkt hatte. Denn ich setzte noch einmal nach: „Meines Erachtens ist die Sehnsucht die Schwester der unerwiderten Liebe.“
Und da kam meines Erachtens eine Hammerantwort: „Es geht nicht darum, von wem du geliebt wirst und wer dich alles liebt. Es geht einzig und allein darum, wen du liebst. Ohne Gegenliebe zu erwarten. Liebe ist kein Tauschhandel.“
Diese Aussage hatte mich damals bis ins Mark getroffen. Ich nickte und konnte darauf nichts erwidern. Gequält lächelnd stand ich auf und ging in den warmen tropischen Regen hinaus, zurück zu unserem Bungalow. Ich habe übrigens Asger nicht wiedergesehen, er reiste offenbar am gleichen Tag noch ab, ohne dass wir unsere Adressen ausgetauscht hatten.
Ein humanitärer Anspruch
Ich weiß nur, dass ich damals lange über Asgers letzte Aussage nachgedacht hatte. Irgendwie kam mir dieser unglaublich hohe Anspruch bekannt vor. Leitet er sich nicht vom Hohen Lied der Liebe im ersten Korintherbrief ab? „Die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu.“
Welch ein hoher Anspruch! Und kein bisschen veraltet. Höchst aktuell. Ob ich ihm jemals in meinem Leben gerecht geworden bin?
Was ist das für eine eigenartige Einstellung, nur dann zu lieben, wenn man selbst geliebt wird? Darf man überhaupt von jemandem erwarten, geliebt zu werden?
Damals wie heute lässt mich die Aussage nicht mehr los. Mit Sicherheit gäbe es wesentlich weniger Probleme auf der Welt, wenn wir diesem zutiefst humanitären Anspruch gerecht würden.
Auf jeden Fall aber lohnt es sich, immer wieder einmal unser Verhalten, unsere Erwartungen, unsere Sehnsüchte und Wünsche, vor allem aber unsere Beziehungen auf dem Hintergrund dieses Liebesanspruchs zu hinterfragen, vielleicht sogar mit einem Menschen, den wir wirklich aus tiefstem Herzen lieben.
Josch 25.03.2017, 19.05
Kein Kommentar zu diesem Beitrag vorhanden