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Jazzmesse. Fortsetzungsroman (9)

 Frühmesse (9)

Die Gruppe fand die quälenden Fragen langweilig, sie wurde unwillig und reagierte aggressiv darauf. Immer häufiger kam es zu Streitereien untereinander, weil es die einen interessant fanden, was Bertram wissen wollte, während andere es als reine Zeitverschwendung erachteten, derartig blödes Zeug zu diskutieren. Sie wollten endlich mit den Proben beginnen. Da die meisten Spieler ohnedies noch nie auf einer Bühne gestanden haben, wurden sie immer nervöser, je näher der Aufführungstermin rückte. Hauptsache, das Publikum lache und klatsche, das sei die beste Bestätigung, so argumentierten sie.



Manchmal kam es vor, dass nahezu alle Spieler und Helfer den Probenraum verließen und in die angrenzende Pfarrbibliothek wechselten, während Bertram mit dem völlig zermürbten Geistlichen und zwei Mitspielern im Probenraum zurückblieb, um über eine einzelne Szene zu streiten.

Unterdessen qualmten die anderen Zigaretten, tranken Bier oder Lambrusco und machten Pfänderspiele, bei denen jeweils ein Kleidungsstück ausgezogen werden musste, bis man halb nackt in der Bücherei herumsaß und sich erst wieder anziehen durfte, wenn man dem von der Gruppe bestimmten Mädchen oder Jungen einen Zungenkuss gegeben hatte. Der Regisseur war in der Zwischenzeit im Probenraum einem Nervenzusammenbruch nahe und wusste weder ein noch aus. Hinauswerfen konnte er Bertram nicht, weil dieser die Rolle der Klothilde ziemlich gut verkörperte und dummerweise so leicht kein Ersatz für den Quälgeist zu finden gewesen wäre.

Wenn der Kaplan zum Beispiel einwarf, dass diese ganzen Fragen für das Stück ohne Belang seien und Bertram die Rolle doch auch spielen könne, ohne den bedeutungslosen Hintergrund zu kennen, im Übrigen fänden sich dazu im gesamten Theatertext keinerlei Hinweise, geschweige denn halbwegs verwertbare Hintergrundinformationen, dann ging die Diskussion für Bertram erst so richtig los, als hätte er nur auf eine solche Ausflucht des Regisseurs gewartet.

Dann triumphierte Bertram, und er ließ nicht eher locker, bis er den Geistlichen vollends blamiert hatte, den Beleidigten spielte und zu verstehen gab, dass er letztlich ahnungslos sei, da es ihm gewissermaßen ja wurst sei, ob er eine Frau mit 30 oder 60 Jahren spiele. Dann stümpere man halt so dahin. Die Blamage würde allerdings auf den Regisseur zurückfallen. Und das wiederum wurmte den Regisseur ungeheuerlich.

Bertram hatte gelesen, dass sich so ein gravierender Altersunterschied auf die gesamte Handlung des Stückes auswirken müsste, auf die unterschiedliche Lebenserfahrung, auf die jugendliche oder senile Körperhaltung, auf die Sprache, den Umgang mit den Konflikten im Stück und so weiter und so fort. Allein die exakte Altersangabe gewährleiste eine glaubwürdige Interpretation der Rolle, führte er neunmalklug aus, wenn ihn Hans auf seine Totalverarschung ansprach, wie er sich ausdrückte. Die Interpretation seiner Rolle habe jedenfalls auch Auswirkungen auf die anderen Schauspieler. Auch sie müssten sich auf seine Rolle einstellen, da alle Rollen ja in Beziehung zueinander stünden. Man stelle sich nur einmal vor: Spiele er eine dreißigjährige Frau, dann könne seine Tochter bestenfalls 15 oder 16 Jahre alt sein. Spiele er jedoch eine sechzigjährige, dann könnte seine Tochter leicht 40 Jahre alt sein. Hans Rummel jedenfalls war von dieser Argumentation ungemein beeindruckt.

Kaplan Meyer dagegen kapitulierte vor Bertrams Argumentation und flehte ihn an, er möchte sich die Fragen bitteschön selbst beantworten und die Rolle einfach nach eigenem Gusto interpretieren. Als Regisseur könne er dazu nichts sagen, er habe sich noch nie zu einem Theaterstück solche Gedanken gemacht, obwohl er bei Gott schon eine ganze Menge Stücke einstudiert hatte.

Für Bertram hatte diese künstlerische Kapitulation des studierten Herrn nur eine Konsequenz: Er fragte den Kaplan, ob er sich denn die Regie zu diesem Stück aufgrund seiner Ahnungslosigkeit überhaupt zutraue. Denn wenn die Gruppe davon erfahre, müsste ihm ja um seine Glaubwürdigkeit und Autorität bange sein. Jedenfalls brächte ihm dann bestimmt keiner mehr den nötigen Respekt entgegen.

Dieser ungeheuerlichen Frechheit Bertrams hatte der Kaplan nichts entgegenzusetzen. Er war dem Weinen nahe und brach mit einem lauten, langgezogenen Grunzen das Gespräch ab. Bertram jedoch war dem Hochwürdigen Herrn Kaplan Joseph Meyer gegenüber ab sofort um so freundlicher und zuvorkommender und behandelte ihn wie einen geistig minderbemittelten Idioten, einen Gehirnamputierten, wie er ihn vor den Kameraden nannte, und sprach in einem leicht singenden Ton mit ihm.

Dem Theaterensemble waren diese Kämpfe zwischen Bertram und dem Geistlichen ganz recht. So konnten sie den Kaplan auch herablassend behandeln. Joseph Meyer hatte seine Autorität eingebüßt und konnte sie nicht mehr zurückerobern. Ob dies letztendlich der Grund dafür war, dass er ein halbes Jahr später beim Bischöflichen Ordinariat ein Gesuch zum Weiterstudium an der Universität in München einreichte, wie Hans Rummel immer behauptete, konnte letztendlich nicht belegt werden, zumal der Geistliche dazu nichts verlauten ließ. Jedenfalls verschloss er sich immer mehr den Jugendlichen gegenüber, wurde einsilbig und redete meist nur wirres Zeug daher, wenn ihn jemand fragte, was er denn an der Universität wolle. Es schien auf jeden Fall sein innigster Wunsch zu sein, seine theologischen Studien in München vertiefen zu dürfen: "Wenn Gott will, ginge ich am liebsten nach Rom an die Gregoriana. Aber ich füge mich der Vorsehung unseres Herrn Jesus Christus und gehe hin, wo immer er mich haben will."

Die Absolventen der Theologischen Hochschule Gregoriana in Rom haben bekanntlich seit Jahrhunderten beste Voraussetzungen, später einmal in Deutschland Bischofsämter zu übernehmen, unbesehen ihrer intellektuellen Fähigkeiten. Ob die Kandidaten für dieses schwierige Amt geeignet sind oder nicht, hatte bisher für den jeweils sie entsendenden Papst keinerlei Bedeutung. Entscheidend war ausschließlich der Gehorsam des jeweiligen Kandidaten. Je einfältiger der Theologe seinen Glauben formulierte und eifernd vertrat, desto größere Chancen hatte er, vom Papst zum Bischof ernannt zu werden. Und Bischof wäre auch Kaplan Joseph Meyer gern geworden, hätte er doch dann nichts mehr mit Menschen zu tun gehabt.

Josch 27.04.2017, 17.17

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