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„Schreib ihr einen Liebesbrief ... !“

Was anonyme Botschaften "anrichten" können

Vor Kurzem las ich auf einem Briefkasten: „Schreib ihr einen Liebesbrief. Dass sie in 40 Jahren Whatsapp-Nachrichten auf dem Dachboden findet, ist eher unwahrscheinlich.“ Im ersten Moment musste ich über die Empfehlung mit wasserfestem Stift in geschwungener, gut lesbarer Schrift auf die Oberseite des gelben Kastens geschrieben, schmunzeln. Doch dann ließ mich diese originelle Aufforderung (wahrscheinlich ein Werbegag der Post) einfach nicht mehr los. Ich überlegte: Wann bekam ich in den letzten Monaten einen persönlichen Brief? Also keine Rechnung, keine Werbesendung, kein offizielles Schreiben des Finanzamts oder der Stadtverwaltung? Einen richtigen, an mich persönlich adressierten, per Hand geschriebenen Brief eines mir nahestehenden, lieben Menschen? Das ist schon eine Ewigkeit her.




Ich überlegte weiter: Wann bekam meine Frau oder mein Sohn in den letzten Monaten – oder sollte ich sagen: in den letzten Jahren – einen persönlichen Brief? Ist es nicht ein Armutszeichen, dass wir uns keine Briefe mehr schreiben? Ist das der Preis einer ins Unermessliche beschleunigten, digitalisierten Welt? Wir haben eine Idee, ein Anliegen, eine Bitte, eine Nachricht, eine Botschaft, die sofort ins Smartphone, ins Tablet oder in den PC getippt wird, und schon landet unsere Botschaft beim Empfänger, die nicht selten auch noch unzählige und oft lächerliche Fehler oder Namensverhunzungen (zum Beispiel Bosch statt Josch) enthält, meist dem Autokorrekturprogramm geschuldet, das vermeintlich verbessert und das Schreiben ungemein beschleunigt und "erleichtert".

 

Was das Zeit kostet! Mein Gott, wie umständlich ...

Seien wir ehrlich: Einen Brief zu schreiben, das ist schon sehr aufwendig, im Grunde genommen viel zu umständlich! Wir haben doch gar nicht die Zeit dazu! Man braucht geeignetes Papier, ein stilvolles Schreibgerät, am besten einen Füller, also keinen Werbegeschenkkuli und auch keinen Bleistift. Man braucht fürs Schreiben einen geeigneten Ort; das geht in der Regel nicht in der U-Bahn, im Bus, in der Pause zwischen zwei Unterrichtsstunden oder in der Mittagspause im Büro. Man braucht eine Briefmarke, und man muss zum Briefkasten gehen, um den Brief einzuwerfen. Das kostet alles Zeit, zumal dann, wenn man sich die ganzen Utensilien erst beschaffen muss. Aber ist das alles letztendlich nicht liebevolle Zuwendung? Ist uns der Adressat dies wert? Wie sagen wir ihr, wie sehr wir uns nach ihr verzehren, wie bezeigen wir ihm unsere Liebe?

 

Was durch eine SMS oder Whatsapp verloren geht

Mir fielen die vielen Briefe ein, die ich als Jugendlicher von meiner großen Liebe bekommen habe. Jede Woche ein Brief, obwohl wir uns zweimal in der Woche gesehen haben. Und ich schrieb selbstverständlich auch einen Brief an sie. Pochenden Herzens den Brief aus dem Postkasten nehmen. Wenn ich später von der Schule nach Hause kam, hatte mir meine Mutter den Brief schon in mein Zimmer gelegt. An der Farbe der Schrift und an der Art, wie die Briefmarke auf den Brief geklebt war, bereits eine erste Botschaft „lesen“. Den Brief unter die Nase halten und ihr Parfüm wahrnehmen, den Brief vorsichtig öffnen und mich ungestört dem Lesen hingeben. Einzelne Sätze immer wieder lesen, bis ich sie auswendig kann. Dann den Brief zu den anderen in die abschließbare Schatulle legen. Jahre später habe ich noch den einen oder anderen Brief wieder herausgenommen und erneut gelesen, obwohl wir längst kein Paar mehr waren.

 

Was können wir tun?

Sollten wir nicht alles daran setzen, um wieder zu einer Kultur des Briefeschreibens zurückzufinden? Haben nicht wir Älteren, die wir mit dieser Art Liebesbotschaften aufgewachsen und groß geworden sind, Verantwortung für unsere Nachkommen, ihnen diese Form bleibender Botschaft zu ermöglichen? Aber wie soll das gehen? Ich kann meinem Sohn schlecht verordnen, auf welche Weise er mit den Menschen zu kommunizieren hat, die ihm wichtig und lieb sind.

Sicher kann man auch eine SMS oder eine Whatsapp archivieren. Aber ob das wirklich das Gleiche ist wie einen alten Brief aus der genannten Schatulle oder dem Karton zu nehmen und darin zu lesen? Ich glaube, eher nicht. Das beweist mir aber wieder einmal, dass jeder Fortschritt auch Schattenseiten, Nachteile hat. Schade eigentlich. Was doch so eine auf einen Briefkasten hingeworfene Empfehlung alles anrichten kann ...

Vor Kurzem bekam ich als Kommentar auf diesen Beitrag per Post eine Fotokarte mit sehr schönen gelben Blumen und einen Zettel mit der Nachricht: »Servus Herr Josef, hier was per Post. Nicht mit Füller und auf edlem Briefpapier, war grad nicht vorhanden. Ihr Blog wird gelesen. Vielen Dank für Ihre Mühe + Zeit. Alles Gute, Gruß @rosi€«

Josch 01.08.2022, 11.05

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Kommentare zu diesem Beitrag

1. von Rocco Kilz

Werter Herr Pöllath,
Ihre Gedanken zur handschriftlich verfassten Botschaft haben mich tief beeindruckt. Sie haben alles so treffend auf den Punkt gebracht! Ich zähle mich selbst zu jener aussterbenden Gattung,die in einer handschriftgespeisten Nachricht jenes Monument im Brief errichtet,das die Vergänglichkeit der Gräber überdauert. Die Vorstellung von einem manifestierten Geist-und Seelenkonstrukt war es aber nicht alleine,die mich Ausschau nach Weggefährten halten ließ.- Es war die Begegnung mit dem eigenen Ich,die mir ganz besonders bei Kerzenschein im Zug der Federspitze bewußt wurde. Einer meiner Füllfederhalter trägt die folgenden,von mir geschmiedeten Verse:
ES NIMMT DER GEIST EIN BAD
IN TINTE AUF PAPIER,
UND FINDET SICH IM BRIEFE
EIN SELIGES QUARTIER...

vom 22.06.2020, 20.10
Antwort von Josch:

Über Ihren Kommentar habe ich mich sehr gefreut, zumal ich den Artikel ja schon vor drei Jahren auf meinem Blog veröffentlicht habe. Dass er immer noch zur Kenntnis genommen wird, ist schon erstaunlich. Ich glaube, dass sogar die Handschrift darunter leidet, wenn man längere Zeit nicht mehr zur Feder greift, im wahrsten Sinn des Wortes. Danke für die schönen Verse!
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