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Über die Fähigkeit, sich helfen zu lassen
Wenn es mir schlecht geht, hole ich mir Hilfe. Meines Erachtens ist es in erster Linie eine Fähigkeit Erwachsener, sich helfen zu lassen. Kinder zum Beispiel wollen alles selbst machen, was ja auch berechtigt ist. Aber vieles können Kinder ja noch nicht. Sie müssen es erst lernen. Sieht ein Kind zum Beispiel, wie Mama oder Papa im Garten mit der Baumschere Sträucher oder Gräser zuschneidet, dann möchte das Kind auch mit der Schere Äste und Zweige aus dem Strauch herausschneiden. Leider erfordert eine solche Arbeit nicht nur Erfahrung und Können, sie ist auch gefährlich. Nicht umsonst sagt das Sprichwort: „Messer, Gabel, Schere Licht, sind für kleine Kinder nicht!“
Nun heißt das nicht, dass Kindern grundsätzlich Gabel und Messer verboten werden sollen. Schließlich gibt es auch Kinderbesteck, damit sie den Umgang mit Messern lernen. Es ist ja auch großartig, wenn Kinder generell alles nachahmen möchten, was die Eltern oder die großen Geschwister vormachen. Aber das hat leider Grenzen und bedarf der Hilfestellung der Erwachsenen.
Ich habe mir zum Beispiel als Drei- oder Vierjähriger die linke Wange mit dem Rasiermesser meines Vaters aufgeschnitten, weil ich mich auch rasieren wollte, wie das mein Vater jeden Tag vor dem Spiegel gemacht hat. Ich schlich mich eines Tages ins Badezimmer, stellte mich auf einen Schemel, damit ich mich im Spiegel sehen konnte, seifte mein Gesicht mit dem Rasierpinsel ein, klappte das äußerst scharfe Rasiermesser aus und wollte mich rasieren. Dabei setzte ich mir einen senkrechten Schnitt in die linke Wanke, ausgehend von der Schläfe nach unten. Die Wange klaffte ziemlich auseinander und blutete sehr stark. Ich schrie offenbar ziemlich laut, und Gott sei Dank war meine große Schwester zu Hause, die überlegt reagierte und die Wunde mit einem Pflaster so stark zusammenzog, dass ich nur geklammert und nicht genäht werden musste.
Das Beispiel zeigt, dass Kinder alles selbst machen wollen und sich nur schlecht helfen lassen können. Leider verhalten sich auch viele Erwachsene so. Dabei ist die Fähigkeit, sich helfen zu lassen, enorm wichtig, wenn man im Leben etwas dazulernen möchte. Mir geht es zum Beispiel so, wenn ich an Wendepunkten des Lebens stehe, wenn ich das Gefühl habe, dass ich mit verschiedenen Problemen nicht mehr allein zurechtkomme. Dann ist es für mich ganz normal, mir Hilfe zu holen, in der Regel von meinem Freund, und wenn der zu sehr in mein Problem hineingezogen würde, hole ich mir Hilfe von professioneller Seite, zum Beispiel bei einem Psychologen, Coach oder Berater. Natürlich stellt dies auch für mich eine ganz schöne Hürde dar, die erst einmal bewältigt sein will. Aber wenn der Entschluss einmal gefasst und der richtige Helfer gefunden ist, ist es für mich immer wieder eine faszinierende Erfahrung, wie mein „großes“ Problem plötzlich immer kleiner wird. Und schon nach kürzester Zeit komme ich wieder ohne Hilfe zurecht.
Diese Tatsache brachte mich vor Kurzem auf die Idee, wie es wohl wäre, wenn man sich – ähnlich wie die Prüfung der Autos durch den technischen Überwachungsverein – alle zwei Jahre einer „TÜV-Prüfung“ unterziehen würde. Man sucht einen Psychologen, Therapeuten, Coach oder Berater auf, um sich einem körperlich-geistigen Gesundheitscheck zu unterziehen, wenn man zum Beispiel feststellt, dass man wieder zu rauchen angefangen hat, obwohl man es doch schon vor Jahren aufgegeben hatte. Oder man hat sich in der Partnerschaft wieder in einem Problem verhakt, das man längst überwunden zu haben glaubte. Oder man ist in einigen Bereichen des Lebens, die einem wichtig sind, ziemlich nachlässig geworden, worüber man unzufrieden ist oder worunter man sogar leidet. Oder man stellt fest, dass man bei bestimmten Dingen überreagiert. Die Liste lässt sich unendlich fortführen, und sie sieht mit Sicherheit bei jedem anders aus.
Der Effekt wäre, dass man schon kurzer Zeit wieder in der Spur ist, dass einem das Leben wieder mehr Freude macht, dass sich zwischenmenschliche Probleme gewissermaßen in Luft auflösen und dass man auch mit sich selbst wieder liebevoller umgeht.
Ich habe mich vor Kurzem so einem „TÜV-Test“ unterzogen. Und da ich parallel dazu an einem neuen Buch von Pascal Voggenhuber gearbeitet habe, in dem es um „Selbstbewusstsein“ geht und in dem der Autor ganz wunderbare Übungen und Meditationen vorstellt, mit denen man sozusagen im Schlaf sein Selbstbewusstsein steigern kann, ergab das eine hervorragende Ménage-à-trois im übertragenen Sinn, bei der längst vergessene oder auch verdrängte Eigenschaften aus dem Unterbewusstsein hervorgeholt, bewusst gemacht und vorsichtig kultiviert werden konnten. Ein faszinierender Prozess, den ich allein niemals geschafft hätte. Man darf eben kein Problem damit haben, sich helfen zu lassen.
Copyright Abbildung: Fotolia, alphaspirit
Josch 24.09.2017, 12.36
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