Ein Gespräch mit meinem 16-jährigen Sohn

Ich: "Nein, 100 Jahre möchte ich nicht werden."

Sohn: „Warum willst Du nicht 100 Jahre alt werden?“

Ich: „Weil ich mit 100 wahrscheinlich dement bin. Das sagt zumindest die Statistik. Und ein Leben mit Demenz stelle ich mir furchtbar vor. Ganz abgesehen davon, dass dies auch für Dich ganz schön belastend wäre. Ein Vater, der seinen Sohn nicht mehr erkennt...

Sohn: „Und wenn Du nicht dement wärst und auch sonst keine Gebrechen hättest?

Ich: „Auch dann will ich keine 100 werden.“

Sohn: „Aber warum nicht?“

Ich: „Weil neben der Gesundheit vor allem das soziale Umfeld entscheidend für Lebensqualität ist. Und so will es nun einmal das Leben, dass der Kreis der Bekannten und Freunde immer kleiner wird, je älter man selbst wird. Und ein Leben ohne Freunde und Bekannte ist für mich nur schwer vorstellbar.“

Sohn: „Aber ich wäre dann ja höchstwahrscheinlich noch da oder auch die Mama.“

Ich: „Statistisch gesehen stimmt es, dass Du dann noch da wärst. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es Dir großen Spaß machen würde, Dich um Deinen 100-jährigen Vater zu kümmern und für ihn zu sorgen. Überleg doch einmal, wie weit wir schon jetzt mit unseren Vorlieben auseinanderliegen, angefangen von Musik, über Filme bis hin zur Literatur! Worüber sollten wir dann reden und streiten?“

Sohn: „Aber wir reden ja jetzt auch über Musik, die mir gefällt, und Musik, die Du magst. Was sollte sich da ändern, nur weil Du 100 bist?“

Ich: „Ich glaube, dass sich die Interessen mit zunehmendem Alter immer stärker differenzieren und die ganzen Verästelungen absterben, dass die wenigen Interessen sich immer mehr verfestigen. Es gibt Entwicklungen, die für andere Menschen nur schwer oder überhaupt nicht nachvollziehbar sind. Und irgendwann hat keiner mehr Lust, sich mit Dingen zu beschäftigen, die einem zutiefst zuwider sind. Da möchte man sich lieber mit Leuten unterhalten, die ähnlich denken, empfinden, fühlen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben und aus einem ähnlichen sozialen Milieu kommen.“

Sohn: „Das mag schon sein. Wir müssen ja nicht über unsere Lieblingsmusik streiten. Und wir kommen doch aus dem gleichen sozialen Milieu.“

Ich: „Das stimmt. Aber wir haben nicht die gleichen Erfahrungen. Ich bin einfach wesentlich älter als Du. Und ob ich mit 100 noch so weltoffen bin, dass mich alle Neuerungen so interessieren, das bezweifle ich.“

Sohn: „Dann reden wir eben über uns. Wie es uns geht, worüber wir uns freuen, was uns gerade beschäftigt, was uns traurig macht und solche Sachen.“

Ich: „Auch das würde Dich in kürzester Zeit langweilen, wenn Du Dir immer die gleiche Jammerei, die gleichen Nörgeleien anhören müsstest.“

Sohn: „Und wenn wir nur nebeneinander sitzen und nichts reden würden? Es geht doch nur darum, dass man da ist.

Ich: „Das stimmt. Es geht darum, den anderen zu spüren, ihn in den Arm zu nehmen, ihn zu streicheln, ihm Zeit zu schenken, zu wissen, dass da jemand ist, der mich mag, der mich liebt, mich so annimmt, wie ich bin. Das ändert sich auch nicht, wenn man älter ist.

Sohn: "Dann kannst Du doch 100 werden, oder etwa nicht?"

Ich muss lächeln. Unter diesen Bedingungen muss ich natürlich meine Meinung ändern. Ich gebe mich geschlagen...