Einfach zum Nachdenken

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Von hier bis zum Anfang

Erwachsenwerden am Rand der Verzweiflung

Duchess, ein dreizehnjähriges Mädchen, lebt mit ihrem fünfjährigen Bruder Robin und ihrer Mutter Star in Cape Haven, einem fiktiven Ort an der Westküste der USA. Duchess kümmert sich nicht nur rührend und in aufopferungsvoller Liebe um ihren Bruder, sie muss auch für ihre verzweifelte Mutter sorgen. Die äußerst attraktive Star, die mit Auftritten in heruntergekommenen Bars den Lebensunterhalt der Familie mehr schlecht als recht bestreitet, ist aufgrund ihres Alkohol- und Tablettenkonsums oft tagelang nicht ansprechbar. Dank Chief Walker, dem Freund aus alten Zeiten, der seine schützende Hand über die drei hält, ist es noch zu keiner Katastrophe gekommen.



Und nun soll auch noch Vincent King aus dem Gefängnis entlassen werden, in dem er wegen der fahrlässigen Tötung der damals siebenjährigen Sissy, der jüngeren Schwester Stars, und wegen eines Mordes im Gefängnis dreißig Jahre einsaß. Walk hat ihm all die Jahre die Treue gehalten. Schließlich waren sie damals, als Fünfzehnjährige, ein unzentrennliches Kleeblatt: Star und Vincent, Walk und Martha, zu der Walk aber keinen Kontakt mehr hat. Martha wurde schwanger und musste auf Druck ihres Vaters das Kind heimlich abtreiben, wovon aber Walk nichts wusste.

 

Die Jahre dazwischen

In den dreißig Jahren, in denen Vincent im Gefängnis saß, hat sich in Cape Haven vieles verändert. Da gibt es seit einigen Jahren zum Beispiel Dickie Darke, einen körperlichen Riesen, dem nahezu alle Häuser am Rand der Klippen gehören und der nun auch gern Vincents Haus kaufen würde. Doch Vincent weigert sich. Er kniet sich lieber in die Renovierung seines Hauses und begegnet den Anfeindungen der Bewohner Cape Havens und vor allem der Ablehnung von Duchess mit Gelassenheit.

Duchess, die sich vor nichts und niemand fürchtet, rächt sich auf ihre Art für die Misshandlungen, die ihre Mutter von Dickie Darke ertragen muss, steckt dessen Bar in Brand, entwendet ein Videoband, das aufgrund der Überwachungskamera wichtige Informationen für Darke enthält und wirft es in einen Müllsack. Dabei gehört das Haus, in dem die Radleys wohnen, längst Darke, der Star und die beiden Kinder kostenfrei darin wohnen lässt.

Da wird die Polizei ins Haus der Radleys gerufen: Star liegt mit einer schweren Schussverletzung auf dem Boden, am Tisch sitzt Vincent, die Hände voller Blut. Und Robin hat alles mit angesehen, er wurde offenbar von Vincent in einen Schrank gesperrt. Für den hinzugezogenen Mordermittler Boyd und die Bewohner von Cape Haven ist der Fall klar: Es kann nur Vincent Star gewesen sein, der die Tat auch sofort auf sich nimmt. Nur Walk glaubt nicht an dessen Schuld und nimmt heimlich Ermittlungen auf. Denn da sind auch noch die beiden Nachbarn Stars: Milton, der Fleischer, und Brandon Rock. Beide könnten es auch gewesen sein. Brandon Rock, der sein ganzes Leben hinter Star her war, und der Schlachter, der sein Teleskop nicht in den Nachthimmel richtet, sondern auf das Haus der Radleys, um seinen Voyerismus ausleben und Star fotografieren zu können, wenn sie nackt in ihrem Zimmer herumläuft.

 

Von hier seit dem Anfang

Vincent will keinen Anwalt, außer Martha, die aber Anwältin für Familienangelegenheiten ist und daher eine Verteidigung ablehnt, zumal der Fall eindeutig zu sein scheint, würde da nicht die Tatwaffe fehlen...

Es kostet Walk einige Überredungskunst, bis Martha schließlich einwilligt. Der Grund dafür ist in Wahrheit, dass Martha Walk immer noch liebt, auch nach all den Jahren, in denen sie keinen Kontakt zueinander hatten. Der »Outlaw« Duchess und ihr Bruder kommen bei ihrem Großvater Hal unter, zu dem Star den Kontakt vollkommen abgebrochen hat. Duchess verhält sich gegenüber dem Großvater ablehnend und aggressiv. Sie wirft ihm vor, er habe sich nie um die Familie gekümmert. Hal jedoch antwortet liebevoll und voller Verständnis auf das Verhalten Duchess'. Ganz im Gegensatz zu Duchess geht Robin beim Großvater auf. Ihm gefällt das Farmleben, und den Großvater liebt er sehr. Bis auch der Großvater einem Verbrechen zum Opfer fällt …

Erst ganz am Ende des Buches kommt es zu einer erstaunlichen, jedoch nachvollziehbaren Wendung. Einer Wendung, die aus dem »Outlaw Billy Blue« Duchess Radley ein verletzliches, vorzeitig gereiftes junges Mädchen macht und die mit gewissem Stolz zu ihrer Geschichte und ihrer ganz speziellen Familiendynamik steht. Diese Reifung aber geht nicht ohne schmerzhafte Trennung, Emanzipation eben …

 

Fazit

Ich habe mir das Buch gekauft, weil der Verlag auf dem Umschlag mit einem Zitat von A. J. Finn, dem Pseudonym von Daniel Mallory, wirbt, der sagt: »Seit Der Gesang der Flusskrebse hat mich kein Roman so bewegt und begeistert.« Der Satz hat eine ganze Reihe Rezensenten dazu veranlasst, die beiden Bücher zu vergleichen (Petra Schwarz, auf: www.buecherrezensionen.org oder Marcus Müntefering auf: www.spiegel.de, besonders aber: bookmarked, auf youTube.). Für die Rezensentin auf bookmarked ist es nicht nur eine coming-of-age-Geschichte, sondern vor allem ein Krimi, wozu die Rezensentin in ihrem kurzen Beitrag mehrmals betont, dass sie eigentlich keine Krimis mag. Strukturell kann man natürlich jeden Text mit einem anderen vergleichen und dem Leser zeigen, wie belesen man doch ist. Ich wollte einen Text lesen, der mich ähnlich berührt, wie die »Flusskrebse«. Das hat zwar gedauert, denn der Roman von Whitaker macht es einem auf den ersten 50 bis 80 Seiten nicht leicht. Nicht dass der Text etwa verworren wäre, vielmehr sind es die vielen Fäden, die er aufgreift und die für das Verständnis des Textes unwesentlich erscheinen. Erst zum Schluss löst sich der Knoten, und es fügt sich alles sehr schön ineinander.

Und wie steht es mit der »Berührung«? Ja, auch dieser Text hat mich sehr berührt, wenngleich mancher Charakterzug an der doch sehr jungen Protagonistin nur schwer nachvollziehbar ist. Dennoch kann ich das Buch jeder Leserin, jedem Leser empfehlen, die bzw. der sich von einem typisch amerikanischen Kleinstadtmilieu anregen lässt, über die eigenen Gefühle der Einsamkeit, der Ängste und Träume in der Postpubertät nachzudenken.

 

Über den Autor

Chris Whitaker ist ein britischer Autor. Er arbeitete zehn Jahre als Finanztrader, bevor er sein Leben änderte und sich dem Schreiben zuwandte. Seine Romane gewannen zahlreiche Preise, schon jetzt gilt Whitaker in England als Sensation. Er lebt zusammen mit seiner Ehefrau und drei Kindern in Hertfordshire, UK.

 

Chris Whitaker: Von hier bis zum Anfang. Aus dem Englischen von Conny Lösch. Titel der Originalausgabe: We begin at the end. Piper Verlag. München  92022. 446 Seiten. ISBN 978-3-492-071129-1. LP 22,00 €

Josch 30.09.2022, 11.03

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