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»Kränkungen trüben das Lebensglück...«
Die Serie »Die Macht der Kränkung« mit den Staffeln Am Anschlag und Am Ende auf ZDFneo hat mich sehr beeindruckt. Am Anschlag bekam ich tagelang nicht mehr aus dem Kopf. Schließlich sah ich sie mir ein zweites Mal an. Und es war genauso spannend wie beim ersten Mal. Als ich vor Kurzem entdeckte, dass es eine zweite Staffel gibt – Am Ende –, musste ich nicht lang überlegen, und ich habe mir die sechs Folgen an zwei langen Abenden »hineingezogen«, wie man so schön sagt. Und auch diese Staffel hat mich nicht mehr losgelassen. Da das Buch Die Macht der Kränkung von Reinhard Haller, dem österreichischen Psychiater, Psychotherapeuten und Gerichtsgutachter, die Idee zu der Fernsehserie lieferte, wollte ich unbedingt mehr über das Thema wissen und habe mir das Buch zugelegt.
Die Fernsehserie
Beide Drehbücher wurden von Agnes Pluch, österreichische Drehbuchautorin und Redakteurin, verfasst. Bei der ersten Staffel führte Umut Dag, österreichischer Regisseur und Drehbuchautor kurdischer Abstammung, Regie, bei der zweiten Staffel Daniel Prochaska, österreichischer Regisseur und Filmeditor, Sohn der Regisseurs Andreas Prochaska. Beide Produktionen spielen in Österreich, was ich als großen Vorteil empfinde, verliert sich doch der Erzählstrang nicht wie häufig bei deutschen Filmen in unwichtige Nebenstränge, bei denen ich oft den Eindruck habe, man wollte damit der Belanglosigkeit Bedeutungsschwere verleihen. Der Erzählstrang bleibt in Die Macht der Kränkung immer im Zentrum, wodurch die durchweg hervorragenden Schauspieler das so wichtige Thema »Kränkung« beeindruckend interpretieren können. Da es sich um eine ZDF-Serie handelt, gehe ich davon aus, dass sie viele Menschen bereits gesehen haben. Daher spare ich mir hier Inhaltsangaben und konzentriere mich auf das Buch.
Die Macht der Kränkung
Das Buch ist schon seit 2015 auf dem Markt und erfuhr 2022 die zwölfte Auflage, was vom Thema her keine Überraschung ist. Denn jeder Mensch kennt Kränkungen aus eigener Erfahrung, weiß, wie sehr eine Kränkung verletzt, wie lange man an einer Kränkung zu knabbern hat, wie sehr man darunter leidet, der Kränkende aber meist gar nicht weiß, dass er jemand gekränkt hat, da jeder Mensch ganz unterschiedliche Prädispositonen in Bezug auf Kränkungen hat. Kein Mensch ist gegen Kränkungen gefeit.
Sich vor Kränkungen schützen?
Wie kann man sich vor Kränkungen schützen? »Mich kränkt niemand mehr, ich sterbe...«, zitiert der Autor aus einem Psychotherapieprotokoll. Das Buch beschreibt Wesen und Ursachen der Kränkung, beschreibt Erscheinungsformen und Folgen der Kränkungen und zeigt Wege zum Umgang mit Kränkungen auf. Dabei geht es um Kränkungsreaktionen und die Entmachtung der Kränkung. Was die Lektüre des Buches auflockert und zum besseren Verständnis des Themas beiträgt, das sind die vielen Erfahrungsberichte und Kurzprotokolle. Sie zeigen, wie vielschichtig das Thema ist und wie es zum Beispiel von narzisstischen Persönlichkeitsstrukturen abgegrenzt wird. Sehr beeindruckt hat mich der Bericht von einem steinreichen, kinderlosen, 88-jährigen Wittwer, der seinen Nichten und Neffen, die sich rührend und fürsorglich um ihn kümmerten, versicherte, dass sie einmal alles erben würden. Bei der Testamentseröffnung mussten sie erschrocken feststellen, dass er sein gesamtes Vermögen einer Kinderhilfsorganisation vermacht hatte. Sie konnten sich nicht erklären, wie es zu diesem Meinungsumschwung gekommen war. Dabei hätten sie nur seinen Hausarzt fragen müssen. Dem hatte der Erblasser gesagt, was ihn so gekränkt hatte: Er hatte sich kurz vor seinem Tod ein sehr teures, sportliches Auto zugelegt und sich damit einen Jugendtraum erfüllt. Als er das Auto den Verwandten zeigte, fragten sie ihn, ob das Auto für ihn nicht zu viel PS habe und ob sich so ein teures Auto für ihn überhaupt noch rentiere … So einfach geht Kränkung.
Vom Umgang mit Kränkung
»Die häufigste und folgenschwerste aktive Kränkung ist die Rache«, schreibt der Autor. Sie geschehe nicht unabsichtlich oder fahrlässig. Und weiter: »Mit der Rache will der Gekränte einen Ausgleich für das erlittene Unrecht schaffen.« Rache dient der Bewältigung von Kränkung. Beeindruckend auch der Abschnitt »Schweigen als Kränkung und Kränkungsreaktion«. Schweigen sei aktives Kränken und passive Kränkungsreaktion zugleich. »Der Schweigende zieht sich auf eine narzisstische Position mit geradezu hysterischer Demonstration zurück.«
Wer seinem Gekränktsein auf die Spur kommen will, sollte in die Haut des Kränkenden schlüpfen. Das wäre ein erster wichtiger Schritt hin zur Versöhnung und Heilung, wenn man so will. Hinzu kommt, das eigene Kränkungsmuster zu reflektieren und damit zu durchbrechen. Am entscheidendsten aber sei das Verzeihen.
Alles in allem: Ein großartiges Buch, das dem Gekränkten und dem Kränkenden, dem Täter und dem Opfer in gleicher Weise hilft, belastende Kränkungen hinter sich zu lassen und befreiter zu leben.
Über den Autor
Reinhard Haller, geboren 1951, war bis 2017 Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik. Er ist einer der renommiertesten Gerichtspsychiater Europas, der unter anderem Gutachten zu Franz Fuchs, Jack Unterweger und den Amokläufer von Winnenden (2009) verfasste. Haller hat zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten zu allen Themen psychischer Erkrankung veröffentlicht.
Reinhard Haller: Die Macht der Kränkung. Ecowin Verlag bei Benevento Publishing Salzburg. 12. Auflage 2022. ISBN 978-3-7110-0078-1. 248 Seiten. 24,00 €
Josch 04.06.2023, 18.02
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