Eine besondere Form der Zärtlichkeit

Die siebzigjährige Witwe Addie Moore klingelt eines Tages bei ihrem Nachbarn Louis Waters und fragt ihn, ob er nicht hin und wieder zu ihr kommen und bei ihr schlafen könnte. Ein ungewöhnliches Angebot, das muss er zugeben. Aber auch interessant, nein aufregend! Er lässt sich die Haare raspelkurz schneiden, lässt sich rasieren, duscht sich gründlich, schneidet sich Fuß- und Fingernägel und verlässt mit Pyjama und Zahnbürste in einer Papiertüte das Haus. Bei Addies Haus nimmt er allerdings den Hintereingang, um nicht gesehen zu werden. Louis findet, dass Addie immer noch eine attraktive Frau ist. Eigentlich hatte er das schon immer gedacht. Auch als seine Frau noch lebte.

Liebe ist, miteinander reden

Sie machten das Licht aus, legten sich nebeneinander ins Bett und redeten zunächst über banale Dinge, später über ihr Leben und die Liebe. So liegen sie nun Nacht für Nacht nebeneinander, halten sich an den Händen und reden. Doch ihre ungewöhnliche Beziehung bleibt in dem kleinen Ort nicht verborgen. Während Louis die Beziehung eher etwas ängstlich im Verborgenen leben möchte, ist Addie die Mutige. Sie scheut die Öffentlichkeit nicht. Und so zeigen sie sich dem Gerede der Nachbarn und Bekannten zum Trotz demonstrativ in der Öffentlichkeit und gehen am helllichten Tag ins Café.

Das Leben könnte so schön sein …

Doch wie immer im Leben, geht es nicht ohne Probleme und Schwierigkeiten. Addies Sohn Gene bittet seine Mutter, seinen Sohn Jamie zu ihr bringen zu dürfen, da er beruflich sehr angespannt ist und sich um ihn nicht kümmern könne. Und so leben sie nun zu dritt: Addie, Louis und Jamie. Der knapp sechsjährige Junge ist anfänglich sehr zurückhaltend, traurig, dass er nun ohne seine Eltern bei der Großmutter bleiben muss. Louis macht alles, um den Aufenthalt des Jungen so angenehm wie möglich zu machen. Schon bald können Addie und Louis wieder zusammen in Addies Bett schlafen, oft sogar mit Jamie in der Mitte. Dann schenkt Louis dem Enkel Addies auch noch einen Hund. Das Leben könnte eigentlich so schön sein, wäre da nicht Gene, der gegen die Verbindung seiner Mutter zu Louis Einwände hat …

Kent Harufs literarisches Werk

Kent Haruf – geboren am 24. Februar 1943 in Pueblo, Colorado, gestorben am 30. November 2014 in Salida, einer Kleinstadt in Colorado – hat nur sechs Romane geschrieben. Und alle spielen in dem fiktiven Ort Holt in Colorado. Haruf ist eine einzigartige literarische Stimme, die durch ihre Einfachheit, Präzision und Empathie für die Charaktere besticht. Er gilt als ein herausragendes Beispiel für moderne amerikanische Literatur. Seine Romane sind nicht hochgestochen, abgehoben, Bücher, die zum Verständnis ein litaraturwissenschaftliches Studium voraussetzen. Es sind die kleinen, alltäglichen, jedoch zutiefst menschlichen Verhaltensweisen und Begebenheiten in seinen Romanen, die sie zu etwas Besonderem machen.

Für mich ist Kent Haruf einer der großen amerikanischen Schriftsteller.

Bernhard Schlink

Bemerkenswert ist sein Kunstgriff, alle seine Romane in dem überschaubaren fiktiven Ort Holt spielen zu lassen. Damit steht Holt als Paradigma für die Gesellschaft. Holt lässt sich auf ganz Colorado übertragen, und Colorado auf die gesamten Vereinigten Staaten. Natürlich ist es eine ideale Gesellschaft. Aber gerade deswegen wecken die Romane die Sehnsucht im Leser, auch in einer solchen Gesellschaft leben zu können, in der Menschen ohne Bedingungen einander helfen und füreinander da sind, ohne die Schattenseiten und Probleme zu verschweigen, ohne die sogenannten Underdogs auszublenden.

Kent Haruf wurde unter anderem mit dem Whiting Foundation Writers' Award, dem Wallace Stegner Award und dem Mountains & Plains Booksellers Award ausgezeichnet. Sein letzter Roman, Unsere Seelen bei Nacht, wurde zum Bestseller und mit Jane Fonda und Robert Redford in den Hauptrollen verfilmt.

Fazit

In einer Zeit, in der die Medien die USA vorwiegend in ihrer Gespaltenheit, ihren Widersprüchen, den verheerenden Auswüchsen der politischen Lügen, einem alles vernichtenden Turbokapitalismus und einer grenzenlosen Waffenvernarrtheit zeigen, tut es unendlich gut, von einer zwar fiktiven, jedoch im Grunde genommen idealen menschlichen Gemeinschaft lesen zu können und mitgenommen zu werden. Ich kann daher nur wärmstens empfehlen, Kent Harufs Bücher zu lesen. Sie sind Balsam für die Seele…

Bibliografie

Kent Haruf: Unsere Seelen bei Nacht. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von pociao. Diogenes Taschenbuch. Zürich 2017. Umfang: 224 Seiten. TB 13,00 €, eBook 9,99 €